Die unbekannte Seite des Fotografen Rudolf Dodenhoff

Die Worpsweder Kirche, der Friedhof, der Weyerberg, die Hamme, das Teufelsmoor – für Postkarten, Kalender, Bücher und Zeitschriften hat Rudolf Dodenhoff diese Orte zu allen Jahreszeiten immer wieder fotografiert. Seine Landschaftsfotografien gelten heute wie die seines Kollegen Hans Saebens als dokumentierende Kulturschätze. Rudolf Dodenhoff hatte den Blick für das Idyll, für Motive, die in den Betrachtern Sehnsüchte nach der Künstlerkolonie Worpswede weckten. Der 1917 als Sohn des Malers Heinz Dodenhoff in Worpswede geborene Fotograf war in seinem Metier ein „Allrounder“. Er arbeitete für Industrieunternehmen, er fotografierte bei Konfirmationen, Hochzeiten und Schützenfesten, er porträtierte Künstler, setzte Neubauten ins rechte Licht, fertigte Passfotos und ließ sich in Bremen für die Tourismus-Werbung engagieren. Dodenhoff war damit ungemein erfolgreich, beschäftigte in Spitzenzeiten 20 Mitarbeiter und gilt noch heute als Pionier der Farbfotografie – er betrieb das erste Farbfotolabor in Norddeutschland. Als er im Oktober 1992 starb, hinterließ er ein sorgfältig geführtes Archiv mit weit mehr als 100 000 Aufnahmen, das inzwischen in der Fotoabteilung des Kreisarchivs Osterholz gut aufgehoben ist. In einem Interview mit dem Journalisten Peter Erdmann von der regionalen Wümme-Zeitung aus Anlass seiner 50-jährigen Tätigkeit als Fotograf im Oktober 1983 betonte er voller Stolz: „Von jeder Aufnahme weiß ich exakt Ort und Datum“.

Das gilt vermutlich für alle Arbeiten, die in seinem im September 1949 eröffneten Worpsweder Fotogeschäft Bergstraße 5 entstanden sind. Rudolf Dodenhoff hat zwar ab 1933 noch als ganz junger Mann mit einer 6×6-Kamera in der Landschaft um Worpswede fotografiert, aber nach seinen Fotografien, die außerhalb seiner Heimatregion entstanden, hat ihn offensichtlich nie jemand gefragt, und er hat von sich aus auch nie öffentlich darüber geredet. Bisher war sein Andenken makellos, jetzt belichtet eine Ausstellung in Berlin es neu, schreibt Andreas Kilb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Dieses Urteil bezieht sich auf eine Sonderausstellung in der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors, die den Titel „Der kalte Blick“ trägt (21.Oktober 2020 bis 11. April 2021). „Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów“ lautet der Untertitel. Diese letzten Bilder sind von Rudolf Dodenhoff. Sie zeigen 565 Frauen, Männer und Kinder aus 106 Familien, die kurz nach diesen zwischen dem 23. März und 4. April 1942 entstandenen Aufnahmen fast ausnahmslos ermordet wurden – nur 26 Personen haben überlebt.

Wie kam Rudolf Dodenhoff dazu, Fotos unter Zwang und in demütigender Weise aufzunehmen, wie wurde er zum Urheber dieser Zeugnisse menschlicher Teilnahmslosigkeit, und warum dauerte es fast 80 Jahre, bis diese Dokumente an die Öffentlichkeit kamen?

Man kann Rudolf Dodenhoff natürlich nicht mehr befragen, er war ein junger Fotograf, der für diese Aktion in dem 80 Kilometer östlich von Krakau gelegenen Tarnów zwei jungen NS-Forscherinnen zugewiesen wurde. Diese Anthropologinnen Dora Kahlich und Elfriede Fliethmann wollten in dem Ghetto, in das mehr als 30 000 Juden zusammengetrieben wurden, angeblich typische körperliche Merkmale von Ostjuden ermitteln. Menschen wurden als „Material“ für die wissenschaftliche Karriere, für die Verwissenschaftlichung von Vorurteilen benutzt. Die Ergebnisse wurden auszugsweise in der Zeitschrift „Deutsche Forschung im Osten“ veröffentlicht.

Margit Berner hat seitdem nichts unversucht gelassen, das Rätsel dieses Fundes zu entschlüsseln. Das Wiener Museum hatte die Unterlagen in den Achtzigerjahren aus dem Nachlass der Dora Kahlich bekommen. Diese NS-Wissenschaftlerin, die wie ihre Kollegin Fliethmann nach 1945 unbehelligt als Gutachterin in Familienangelegenheiten und als Sozialpädagogin arbeiten konnten, war parallel zu Margit Berners Nachforschungen ins Visier von Götz Aly und Susanne Heim geraten, die das Handeln von Vordenkern der Judenvernichtung untersuchten. Im Universitätsarchiv Krakau und im Smithsonian Museum in Washington fand man dann die Mosaiksteinchen, die es ermöglichten, fast jedem Foto einen Namen zuzuordnen. Für die 26 Überlebenden waren das in manchen Fällen die ersten und einzigen fotografischen Zeugnisse ihrer Angehörigen.

Aber wie kam Rudolf Dodenhoff zu diesem Auftrag in Tarnów? Hinweise gibt sein von Margit Berner recherchierter Lebensweg, der im Katalog zur Berliner Ausstellung und in ihrem Buch „Letzte Bilder“ bruchstückhaft dargestellt ist.

Dodenhoff wechselte nach seiner Fotografen-Ausbildung an der Staatlichen Lehranstalt für Fototechnik München im Oktober 1941 nach Krakau. Dort war er bis Februar 1942 in der Landesbildstelle des Generalgouvernements, Hauptabteilung Wissenschaft und Unterricht, tätig. In dem 1983 in der Wümme-Zeitung veröffentlichten Artikel spricht Dodenhoff selbst von einer Tätigkeit in einer „Organisation Wissenschaft und Unterricht“ und verknüpft das mit einem Hinweis auf ein Psychologie-Studium in Wien. Unerwähnt bleibt die Tatsache, dass diese „Organisation“ Teil der NS-Verwaltung war, die die Ausbeutung und Vernichtung in den besetzten Gebieten betrieb. Im Februar 1942, also unmittelbar vor dem Auftrag im Ghetto Tarnów, zog Dodenhoff nach Wien.

Mit der Zulassung zum Begabtenabitur studierte er dort nicht Psychologie, sondern Volkskunde, Völkerkunde und Rassenkunde bei Dora Kahlichs Vorgesetztem Karl Tuppa und vor allem bei Richard Wolfram, der zu der Zeit in Wien das Institut für germanisch-deutsche Volkskunde leitete. Wolfram, frühes NSDAP-Mitglied seit 1932, war derjenige, der die Verbindung zu der Forschungsstelle „Das Ahnenerbe, Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde“ hielt. Dabei handelte es sich um eine Außenstelle der von Heinrich Himmler gegründeten und geleiteten Organisation, die vom Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS finanziert wurde. Wolfram setzte Dodenhoff und seine erste Ehefrau zum Beispiel in Südtirol zu Foto-Arbeiten ein, die er dann dem „SS-Ahnenerbe“ übergab. Über Rudolf Dodenhoffs Tätigkeit für diese Wiener Einrichtung ist nichts Näheres bekannt.

In der Berliner Ausstellung „Der kalte Blick“ wird die Judenverfolgung an einem besonderen Beispiel illustriert – unter anderem mit Material, das Rudolf Dodenhoff fertigte. Seine Bilder werden zentral auf so eng gestellten Wänden platziert, dass man als Besucher nicht frontal, sondern nur von der Seite auf diese Gesichter schauen kann. Das Kuratorenteam aus der Gedenkstätte Topographie des Terrors, aus der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und vom Naturhistorischen Museum Wien wollte diese Opfer der Vernichtung nicht individuell zur Schau stellen. Ihre Fotos sind Erinnerungsstücke, keine Schauobjekte.

Jens Bisky, Autor einer Rezension dieser Schau in der Süddeutschen Zeitung, hat in seinem Text den Vorschlag gemacht, man möge diese Ausstellung in Tarnów und auch in Worpswede zeigen, wo Rudolf Dodenhoff den Ruf eines künstlerischen Lichtbildners genießt.

(Wir danken Dr. Harro Jenss, Worpswede, für seine Unterstützung bei der Recherche.)