Die TET-Göttin – von der Rückkehr einer Hundertjährigen, die vor den Nazis versteckt wurde und in Vergessenheit geriet

Große Ruhe ausstrahlend, empfängt die TET-Göttin heute alle, die in das Bahlsen-Stammhaus in der hannoverschen Podbielskistraße 11 streben. 1921, also vor einem Jahrhundert, fand diese Rotstein-Figur des Bildhauers Bernhard Hoetger (1874-1949) ihren Platz im Eingangsbereich des 1911 bezogenen Gebäudes. Der Worpsweder Künstler hatte den Auftrag erhalten, das Entrée zu dekorieren, platzierte zwischen den Aufgängen zu den Türen 1919 zwei „Vasen“ aus Travertin, 1920 Reliefs mit sechs Porträts, die den Firmengründer, seine Frau und seine vier Söhne darstellen, sowie ein Jahr später die ägyptisch anmutende Göttin. Sie erhielt ihren Namen nach dem 1903 für das Unternehmen entwickelten TET-Markensiegel, das im Jahr darauf erstmals für Leibniz-Keks-Packungen eingesetzt wurde. Basis war eine altägyptische Hieroglyphe, die sinnbildlich für „ewig während“ oder „ewig dauernd“ steht. Mit „TET“ schuf der Grafiker einen lesbaren Begriff für die Phonetik, die man der Hieroglyphe zuschrieb.

Dr. Birgit Nachtwey und Werner M.Bahlsen

Mit der Ausmalung des großen Festsaals 1912 im Stammhaus gestaltete der Maler Julius Diez erstmals die Figur der TET-Göttin als Schutz- und Ewigkeitsgöttin für das Haus Bahlsen.

In der ägyptischen Mythologie gibt es keine Göttin dieses Namens. Hoetger griff das Motiv der TET-Göttin auf und realisierte zwei Varianten. Viele Jahrzehnte hat die steinerne Fassung weder in der Kunstwissenschaft noch in der Hoetger-Forschung je Erwähnung gefunden. Ursächlich dafür wird sein, dass sie in den 1930-ger Jahren von ihrem Standort entfernt wurde und damit völlig aus dem Blickfeld verschwand. 2018 kam sie schließlich ans Licht der Öffentlichkeit zurück.
Unternehmensgründer Hermann Bahlsen (1859-1919) war von 1916 bis kurz vor seinem Tod Auftraggeber und generöser Förderer von Bernhard Hoetger. Sie teilten das Faible für ägyptische Kunst und planten gemeinsam eine weitläufige „TET-Stadt“ für Hannover, die eine neue Fabrik, Verwaltungs- und Repräsentationsgebäude sowie Wohnungen und die notwendige Versorgungsinfrastruktur umfasste. Gleichzeitig erwarb Bahlsen zahlreiche Skulpturen Hoetgers für sein Unternehmen und seine Privathäuser, beauftragte den Künstler mit Entwürfen für Keksdosen, Besteck und Gläser. Eine solche künstlerische Begleitung seiner Unternehmertätigkeit war für Hermann Bahlsen eine Selbstverständlichkeit, wie er 1912 in der Mitarbeiterzeitung „Leibniz-Blätter“ postulierte: „es ist wahrlich nicht einerlei, in welcher Umgebung ein Mensch arbeitet, und wie die Dinge beschaffen sind, mit denen er zu tun hat“.

Das große Projekt „TET-Stadt“ kam über den Status eines Modells nicht hinaus – der 1. Weltkrieg und die dadurch bedingte wirtschaftliche Lage des Unternehmens sowie der überraschende Tod von Hermann Bahlsen verhinderten die Realisierung des monumentalen Plans. Parallel zur Planung des Quartiers arbeitete Hoetger 1917 im Auftrag von Hermann Bahlsen an der Figur seiner ersten geheimnisvollen TET-Göttin, die dann in einer schwarz patinierten Bronze-Fassung entstand und als zentrales Monument auf dem „TET-Stadt“-Gelände vorgesehen war. Diese Skulptur ist seit vielen Jahrzehnten im Besitz der Kunstsammlungen der Museen Böttcherstraße in Bremen.

Erst drei Jahre später, 1920, – da war das TET-Stadt-Projekt schon zu den Akten gelegt und Hermann Bahlsen bereits verstorben – erhielt Bernhard Hoetger von Martha Hohmeyer als Mitglied der Bahlsen-Geschäftsführung den Auftrag einer weiteren Version der TET-Göttin in rotem Porphyr, einem im Steinbruch Rochlitzer Berge gewonnenen Material, das heute noch als „Sächsischer Marmor“ bekannt ist. Hoetger entwickelte eine Zweitversion für den Eingangsbereich des Stammhauses, die sich von der ursprünglichen Fassung nicht nur im Material, sondern auch in der Größe unterschied. Die Bronze-Fassung misst 83 Zentimeter Höhe, die Rotstein-Version 1,54 Meter. Ausgeführt wurde die Figur nicht von Hoetger persönlich, sondern von einem Hannoveraner Bildhauer Kröger, dessen Arbeit von Hoetger autorisiert wurde.

Von 1921 bis Mitte der 1930-ger Jahre stand diese Statue auf einem Rotsteinsockel vor dem Firmensitz, dann verschwand sie zu einem bis heute ungeklärten Zeitpunkt. Der mutmaßliche Grund: Es gab ernsthafte Befürchtungen, dass die Figur von Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt und zerstört werden könnte. Nur wenige Eingeweihte müssen damals gewusst haben, wohin die TET-Göttin geschafft wurde – auf das Betriebsgelände eines Steinmetzes, der am Friedhof des Stadtteils Stöcken ein Grabsteingeschäft betrieb.

Hoetgers Skulptur muss dort unauffällig lange Jahre zwischen anderen Figuren gestanden haben. Nach dem 2. Weltkrieg nahm der Steinmetz wegen der Rückgabe Kontakt mit der Firma Bahlsen auf. Dort standen damals andere Themen im Vordergrund, und so kam es nicht zum Austausch. Als die Familie das Geschäft am Friedhof in den 1970-ger Jahren aus Altersgründen aufgab, nahm sie die Göttin mit in den ummauerten privaten Hausgarten (Foto privat). Eine Verwandte der Familie nahm schließlich im Juni 2017 Kontakt zum Bahlsen-Archiv auf und wies auf die Steinfigur hin, bei der es sich ihrer Ansicht nach um eine Darstellung der Ceres, der römischen Göttin der Feldfrucht, von einem unbekannten Künstler handele. Die Recherche seitens des Archivs (Dr. Birgit Nachtwey) brachte es schon bald zu Tage: Der Figur einer Wasser-Trägerin am seitlichen Gebäudeteil des Stammhauses stilistisch sehr ähnlich, erwies sich die Skulptur aus Rotstein als die TET-Göttin von Bernhard Hoetger, die vor mehr als 80 Jahren aus dem Eingangsbereich verschwunden war.

Die Rückführung wurde im Dezember 2017 eingeleitet, Expertinnen (Diplomrestauratorin Sonja Toeppe, Worpswede, und Diplomrestauratorin Larisa Piepo, Hannover) prüften den Zustand der über 1000 Kilogramm schweren Figur und entschieden, dass außer einer Reinigung keine kosmetischen Eingriffe nötig seien. Am 24. Mai 2018 kehrte Bernhard Hoetgers steinerne TET-Göttin an ihren ursprünglichen Platz vor dem Bahlsen-Stammhaus zurück (Foto) und begrüßt dort auch 100 Jahre nach ihrer ersten Aufstellung in sich ruhend alle eintretenden Besucher.