Dieser lange Bericht der Schriftstellerin Anke Ehlers von den Geschehnissen in Worpswede während der letzten Tages des Zweiten Weltkrieges ist einzigartig. Ausführlich erzählt die Autorin aus der Sicht ihrer Familie von den Kampfhandlungen und dem Zusammenbruch des herrschenden Systems und dem Beginn einer neuen Ordnung.
In der Nacht vom 4. zum 5. April 1945 wurde in Worpswede der Volkssturm alarmiert. Südlich von Bremen rückte die Front vor. Autho (so nannte Anke Ehlers ihren Mann Otto Meier) bekam den Bescheid erst morgens im Betrieb (er war damals dienstverpflichtet bei Cetto), er holte mich aus dem Bett. Für drei Tage Proviant sollte er mitnehmen, und es war kaum Butter und nur ein Knust Brot im Haus, da es gerade die letzte Woche der Lebensmittelzuteilung war. Ich buk in aller Hast von den letzten zwei Eiern ein paar Pfannkuchen, aber Autho nahm sich nicht die Zeit, darauf zu warten, er zog ab. Ziemlich verstört sah ich hinter ihm her, wie er die Schneise hinaufging.
Wir schafften mit einiger Eile die große Zinkkiste vom Boden und gruben sie im „Sauerland“ mit Wäsche, Kleidern und Lebensmitteln ein, auch Authos Vasen verschwanden in der Erde. Ehe wir den Sand darüber schaufelten hatte ich stark das Bedürfnis Blümchen in die Kuhle zu streuen, wie man es bei Beerdigungen zu tun pflegt…
Inzwischen war Autho zum Mittagessen gekommen, der Volkssturm war untätig im Gasthof „Stadt Altona“ versammelt, auch zum Abendbrot kam er, und nachdem er nachts einige Stunden in Böttchers Scheune auf einem Lattenwagen kampiert hatte, konnte er auch nach Hause gehen.
Über Ostern, am 1.4., war Diechen (Tochter Irma) aus Wunstorf auf Urlaub gekommen, sie hätte eigentlich Dienstag nach dem Fest zurückfahren müssen. Wir überredeten sie, einen Tag wenigstens noch zu warten, da wir hofften durch Radionachrichten über den Stand der Dinge Überblick zu gewinnen. Der amerikanische Vormarsch näherte sich von Süden her dem Teutoburger Wald, der englische von Westen her über Meppen, – Osnabrück war bereits gefallen. Diechen fuhr also einen Tag später, am 4.4. in der Frühe, ich hielt es für reinen Wahnsinn, aber ihr Verantwortungsgefühl war stärker, sie war nicht umsonst in die preußische Schule gegangen. Für alle Fälle nahm sie ihr Rad mit – und sie kam damit um 9 Uhr schon wieder zurück. Der Zug fuhr nur noch bis Verden. Hartnäckig, wie sie ist, gab sie ihre Reise aber noch nicht auf, sondern radelte nun nach Oyten zu Frauke (Schwester), um von Achim aus den Mittagszug nach Hannover zu erreichen. Glücklicherweise redete man in Fraukes Flakstellung diese Absicht gründlich aus. Soldaten, die mit Munition nach Hannover unterwegs waren, bestätigten ihr ebenfalls die Unmöglichkeit, dorthin zu kommen – also kehrte Diechen gegen Abend im Wagen des Kommandeurs nach Hause zurück. Ich war grenzenlos erleichtert, sie jedoch ziemlich bedrückt in Gedanken an ihre Sachen, Kleider, Briefe, Fotos, die in Wunstorf geblieben waren, und die sie natürlich nun verloren geben musste. Frauke ließ mir durch Diechen versichern, dass sie ebenfalls sofort kommen würde, wenn die Sache brenzlig würde. Ich machte meinen „Kriegseinsatz“ weiter und ging zum Kaufhaus Bullwinkel zum Markenkleben, es war ungemütlich, dauernd Fliegeralarm, aber in der Aufregung über die heranrückende Front achtete man weniger darauf als sonst. Autho war zunächst vom Volkssturmdienst befreit, da er die Wache im Betrieb übernommen hatte. Die ersten Panzerspitzen sollten schon nahe bei Bremen sein, niemand konnte sich eine Vorstellung machen, was nun eigentlich geschehen würde, vielmehr wie die Geschehnisse abrollen würden. Es schien mir höchst bedenklich, dass Diechen noch nach Bremen musste, um sich auf dem Lloydbahnhof ihren militärischen Entlassungsschein zu holen, ohne den man hier – Bürokratismus bis zum Ende – keine Lebensmittelkarten ausliefern wollte. Wegen Fliegeralarm blieb der Zug in Lilienthal stecken, Diechen musste zu Fuß zurück, sie borgte sich dann ein Rad, um zum Wehrkreiskommando nach Oberneuland zu fahren, wo sie endlich den erforderlichen Stempel bekam.
Am nächsten Tag, einem Sonntag, erschien Frauke mit hochbepacktem Rad, allerdings noch nicht endgültig. Sie brachte Schallplatten mit, ergattert aus einem in Auflösung begriffenen Schallplattenarchiv der Wehrmacht – es ist das einzige, was uns der Krieg eingebracht hat und ausgerechnet Bach- und Mozartmusik. – Wir verlebten einen schönen ruhevollen Konzertnachmittag. Vierundzwanzig Stunden später schickte man dann Frauke endgültig nach Hause. Sie hatte nachts verschiedene Weserdörfer brennen sehen.
Inzwischen hatte im Dorf die Jagd nach Lebensmitteln begonnen, in allen Läden war ein fürchterliches Gedränge, und was wir während des ganzen Krieges nicht gekannt hatten, das Schlangestehen auf den Straßen. Die Tausende von Flüchtlingen aus Ostpreußen beherrschten das Feld. Als dann in den nächsten Tagen die Vorratslager geöffnet und Mehl, Zucker, Reis, Butter und Fleisch an die Bevölkerung verteilt wurden, nahm das Rennen nach Futter groteske Formen an. Das ganze Dorf war auf den Beinen mit Säcken und Kissenbezügen. Soviel Vorräte auf einmal hatten wir seit Jahren nicht, in unserem Haushalt überhaupt noch nie gehabt. In allen Häusern wurde so gut gegessen wie schon lange nicht mehr. Viele Soldatentransporte durchzogen das Dorf, auf den großen Höfen gab es Einquartierung, eine Hochzeitsstimmung herrschte, abends sah man nur Soldaten mit Mädchen. Merkwürdig waren die durchziehenden Züge mit Kriegsgefangenen, Russen, Italiener, sie schienen von weit her zu kommen, manche hinkten ganz allein müde weit hinter dem Tross die Landstraße entlang. Schließlich spielte sich der größte Teil dieses Straßenverkehrs nur noch nachts ab, da tagsüber die Tiefflieger die Straßen bestrichen. Alle Augenblicke war von irgend einer Seite das Knattern der Maschinengewehre und das Schießen der Bordkanonen zu hören. Nur ungern ließ ich die Kinder ins Dorf gehen. Ich erlebte auf der Lindenallee zwei Tiefflieger, die dicht über den Berg flogen, die dortige Flakstellung beschossen und die Gegend am Bahnhof; sie tauchten ein paarmal auf und ab, flogen bis über die Lindenallee und von da wieder zurück. Ich stand zuerst hinter einem Baum, es war sonderbar: so nah die unmittelbare Gefahr, schließlich lief ich in Arstes Haus. Kaum war ich bis Schulken gekommen, hörte ich die Flieger von neuem. Ich ging dann ins Werk zu Autho, um zu sehen, ob ihm nichts passiert war, ich hatte richtig Angst unterwegs, denn immer war das Motorengeräusch zu hören. Am gleichen Abend warfen sechs Bomber einen Teppich Splitterbomben über den Schützenplatz, wo eine Funkstation aufgebaut war. Ich war gerade wieder an der Lindenallee als die Ladung herabrauschte. Man wartete. Jeder hatte nur den einen Gedanken, dass das Unvermeidliche nur schnell über uns hinweggehen möchte, es ging allen viel zu langsam. Wir hatten die Vorstellung, dass wir gleichzeitig mit Bremen „drankommen“ würden. Die Männer des Volkssturms waren sich untereinander einig, nicht zu schießen. Autho war vom Wachdienst usw. befreit, weil er für die Arbeit im Betrieb reklamiert war, er brachte täglich die gewohnte Zeit dort zu. – Wir wirtschafteten im Haus wie sonst, es gab große Wäsche und mittags lagen wir im Liegestuhl in der Sonne. Wenn das Motorengeräusch der Tiefflieger zu nahe kam, standen wir auf, aber die Kinder auch nicht immer. Wir sahen hoch, wenn sie über uns hinwegflogen, tranken auf der Loggia Tee und nähten an unseren Sommerkleidern. Es gab keinen Strom mehr, also auch keine Radionachrichten. Goldygas hatten hatten jedoch Anschluss an die Lichtanlage im Logierhaus, das von der Wehrmacht besetzt war. Autho lief abends immer hin, um zu erfahren, was es gab. Was Bremen betraf, so brauchten wir bald kein Radio mehr, um zu wissen, dass der Angriff begann. Das Haus schütterte und klapperte vom Schießen der feindlichen und er eigenen Artillerie. Wir legten uns nur halb ausgezogen zu Bett, – in gewissen Abständen summte immer wieder ein Flugzeug heran und warf eine Bombe ab, wahrscheinlich auf die nächste deutsche Geschützstellung. In der nächsten Nacht steigerte sich der feindliche Beschuss zu einem unaufhörlichem Trommelfeuer, es setzte abends gegen neun Uhr ein und dauerte ununterbrochen bis gegen sechs Uhr morgens. Autho hatte gerade an diesem Abend Volkssturmwache. Wir zogen uns für den Bunker an, zwei Kleider übereinander und Skihosen. Frau Will mit den drei Kindern tauchte in den Bunker hinunter, Frau Hapke mit der Oma und dem kleinen, kranken Jungen bezog die Küche. Wir gingen zumeist draußen herum, buddelten auch im Mondschein noch einen Waschkessel mit Schallplatten und Lebensmitteln ein. Das Schießen dröhnte furchtbar, aber doch immer in die gleiche Richtung. Autho, der um ein Uhr von der Wache zurückkam, beruhigte uns denn auch, und wir gingen schlafen, d.h. wir legten uns wenigstens hin. Um elf Uhr des nächsten Tages kapitulierte Bremen. Das erfuhren wir jedoch erst später. Niemand wusste, was eigentlich geschah, man war auf Gerüchte angewiesen. Da Hitler in Berlin sein sollte und die Stadt von den Russen immer restloser eingeschlossen wurde, setzten wir unsere Hoffnung auf seinen „Heldentod“ und die anschließende Kapitulation. Viele Leute im Dorf waren der Meinung, dass wir außerhalb der Kampfgeschehnisse bleiben würden, nachdem Bremen genommen worden war. Von Fliegern wurden wir jetzt verschont, was wir allerdings vielleicht dem schlechten Wetter zu verdanken hatten. Es regnete und war grau und neblig. Auf der Straße vollzog sich immer deutlicher der Rückzug, eine geschlagene Armee in Auflösung. Lastwagen, Pferdewagen, Motorräder Geschütze, Trecker, das rollte, ratterte, dröhnte Tag und Nacht auf der Straße vorbei, todmüde Männer sanken bei den Bauern für eine Nacht ins Stroh, nachdem sie ihren Wagen in die Diele gesteuert hatten. Andere wieder hörte ich auf zottelndem Trosswagen so gemütlich singen, als sei ihnen der Frieden schon geschenkt. Dann rollten im Dunkel der Nacht einige Panzer vorbei. Es klang schreckenerregend, doppelt weil das Auge nicht sah, welche Gestalt zu diesem stampfenden, klirrenden Geräusch gehörte, so entstand in der Einbildung ein unförmiges, vielgliedriges, eisenrasselndes Ungetüm, das sich durch die Finsternis da draußen wälzte, als wäre es das Untier des Krieges in eigener Gestalt.
Die Front zog sich bei uns nach Osten und Norden zu, es wurde immer deutlicher, dass wir wie die Katze im Sack saßen. Das Rummeln der Geschütze klang nun schon in unserem Rücken, und immer noch steigerte sich der aufregende Durchmarsch von Militär. Im Dorf waren Nebelwerfergeschütze aufgefahren, sie fingen an zu feuern. Es schien, dass ein Hauptmann, den der Kriegszufall mit einem Trüppchen Soldaten gerade an unserem Ort eingesetzt hatte, seine letzten Kriegslorbeeren am Weyerberg pflücken wollte, vielleicht sollte er auch den Rückzug der nach Norden fliehenden Truppen decken. Jedenfalls wurde dadurch das Künstlerdorf ein militärisch wichtiger Punkt. Sonntagnacht am letzten Kriegswochenende, 30. April, begann die Beschießung unseres Dorfes. Beim ersten Einschlag fuhren wir hoch aus den Betten und in unsere Kleider. Unsere Matratzen hatten wir ohnedies vorsichtshalber schon unten im Zimmer aufgeschlagen. Bei den nächsten Einschlägen saßen wir schon im Erdloch, zu achten, so dicht gedrängt, dass ich nach kürzester Zeit Herzbeklemmung bekam und alle in Aufregung brachte, weil ich trotz der Schießerei hinaus wollte. Es wurde auch den anderen klar, dass wir unmöglich längere Zeit in dieser Enge aushalten könnten, so rafften wir unsere Decken und zwei Handköfferchen auf und entschlossen uns, Hals über Kopf zu Meyerdierks hinüberzulaufen. Sie hatten uns vorher angeboten, dass wir in ihren Keller kommen könnten. Bei diesem Wettrennen mit der ersten Salve hatte ich Angst, richtig abscheuliche Angst. Die Knie wurden mir weich und der Gaumen trocken. Frauke fasste meine Hand und zog mich mit. Auf der Straße liefen wir an rollenden Trosswagen und Soldaten vorbei, sie schwankten schattenhaft in der Dunkelheit. Eine Männerstimme rief uns an, gutmütig spottend, wohin wir denn so eilig wollten, es wäre ja schon alles vorbei.
Wir rasten um das Meyerdierksche Haus herum in den Kellereingang. Gleich an der Hoftreppe war unerwarteter Betrieb. Die ganze Nachbarschaft einschließlich der Flüchtlingsfamilien hatten sich schon hierher geflüchtet. Wir drängten uns durch. Frau Meyerdierks, geschäftig wie ein Wiesel, sorgte für Platz, es wurden Stühle aus der Wohnung geschleppt, schließlich saß jeder, ich auf einem Holzstapel im Kohlenkeller in Gesellschaft einer vielköpfigen Familie aus dem Haus jenseits der Straße. Eine lungenkranke Frau lag in einem Korbsessel, eine klapprige alte Oma ausgestreckt in einem Liegestuhl, daneben hockte ein Blöder, dann waren verschiedene Frauen und Mädchen da, sowie zahlreiche Kinder, außerdem ein Freier von einem Mädchen und Martin, der einzige legale Mann der Familie.
Wir saßen noch gar nicht lange, mehr oder minder stumm, als ein naher Einschlag uns zusammenschrecken ließ. Das Haus gegenüber, das eben dieser Familie gehörte, hatte einen Treffer ins Obergeschoss bekommen. Eine der dicken jungen Frauen, die mit den Männern nach einer Weile hinausging, um nachzusehen, kam mit der betrüblichen Nachricht zurück. Erstaunlich, wie gelassen sie blieb, allerdings wohl auch zum Teil mit Rücksicht auf die kranke Großmutter. Im oberen Stock war alles zertrümmert, ein großer Verlust immerhin für die Ärmlichkeit dieser Familie. Auch Käthas (Kühl) Haus sollte etwas abbekommen haben, wie Diechen mir durch die Tür zurief. Sie saß mit Frauke und Autho im Kellerflur. Ich hatte danach nicht viel Hoffnung, unser Haus heil wiederzusehen. Eigentlich fürchtete ich in der ganzen Zeit nur für unser Heim; um uns Vier, unser Leben und unsere Gesundheit hatte ich keine Angst, oder jedenfalls kam sie mir nicht recht zum Bewusstsein. In mancher Bombennacht hatte ich mich unvergleichlich viel mehr gefürchtet, als in dieser direkten unabweislichen Gefahr. Der Hauptgrund für meine Gelassenheit mochte in der Tatsache liegen, dass wir Vier zusammen waren und mir dies nie gehoffte Glück ein Unterpfand schien für den Beschluss des Schicksals, uns vor dem Verderben zu bewahren. Denn in all den Jahren, wenn ich an die Schlusskatastrophe des Krieges dachte, hatte mir immer die Aussicht vorgeschwebt, dass wir alle auseinandergerissen sein und keiner vom anderen wissen würde. Davor hatte uns trotz aller Möglichkeiten unser guter Stern bewahrt – das machte mich ziemlich sicher angesichts der letzten Bedrohungen.
Es waren drei Babys im Keller, die schrien abwechselnd, machmal alle zusammen. Den Meyerdierkschen Kakadu hatte auch jemand heruntergeholt, er hielt sich jedoch ganz still in seinem Bauer. Als es Morgen wurde, kam etwas Bewegung in unsere Versammlung. Autho ging nachzusehen, ob unser Haus noch stand und brachte Brot und Butter mit. Frau M. kochte Kaffee, wir tauchten grau und zerknittert in der Küche auf und nahmen einen Schluck, wurden aber, ehe wir unsere Schnitte Brot zu Ende gekaut hatten, durch den nächsten Schuss schon wieder in den Keller gejagt. Da hockten wir den ganzen Tag über ziemlich dumpf auf dem Platz. Frau M., obwohl sie große Angst hatte, lief dagegen in aller Emsigkeit treppauf und -ab; die Kühe mussten gemolken, das Viehzeug gefüttert werden. Er, Meyerdierks, verschwand ebenfalls öfter, die Kinder versuchten immer nach draußen zu entwischen und wurden zurückgebrüllt, geräuschvoll turnten sie am Treppengeländer, der hungrige Säugling schrie. Aus dem Kohlenkeller, wo die vielköpfige Familie jetzt unter sich war, war ein Kommen und Gehen aus dem zertrümmerten Haus wurden die Vorräte herübergeschafft, Betten und Geräte. Eine der Flüchtlingsfrauen, die auch zu den betroffenen Hausgenossen zählte, war inzwischen am Gemeindebüro gewesen und hatte sich für ihre Familie neue Unterkunft in einer von Soldaten geräumten Baracke zuweisen lassen. Mit bemerkenswerter Sturheit zogen die beiden Frauen mit ihren Kindern mitten im Beschuss bepackt und beladen ab.
Der Gendarm erschien, jemand war bei ihm gewesen, weil der Keller überfüllt war und Eilers im Nachbarhaus den seinen abgeschlossen hielt. Zu einer energischen Aktion gegen den unsozialen Nachbarn kam es jedoch nicht. Wittvogel hatte sichtlich keine Lust, es mit Eilers zu verderben, und M. seinerseits war auch zu vorsichtig, ehe die nächste Nacht anbrach , suchten noch weitere Familien im Meyerdierkschen Keller Schutz. Sie hatten die letzte Nacht ohne Deckungsmöglichkeit über sich ergehen lassen müssen. Einmal stieg auch, schmal und geisterhaft, die Gestalt Frau am Endes die Kellertreppe herunter, um mit heiserer Stimme nach Herrn M. zu fragen, er erzählte uns, daß sie ihm mit der Bitte in den Ohren läge, ihre beiden Hunde zu erschießen, ehe die Engländer kamen. Sie hing an diesen Hunden mehr als an irgendwelchen Menschen, und sie hatte Angst um sie. Meyerdierks versuchte, ihr die Furcht auszureden, er versprach ihr auch, für Futter zu sorgen, damit sie nicht verhungerten. Abends kochte ich eine Milchsuppe für uns, wir standen dann noch eine Weile draußen, es graute uns einigermaßen vor der zweiten Nacht. Unsere Hoffnung, die ersten Feindpanzer möchten noch vor ihren Anbruch erscheinen, hatte sich nicht erfüllt. Diesmal hatte ich mich zuerst ganz bequem in einem Liegestuhl eingerichtet mit Kissen und Decken, eine Wärmflasche unter den Füßen, ich schlief dann auch richtig ein, bis der Beschuss von neuem mit größter Heftigkeit einsetzte.
Wahre Feuerstöße folgten immer dicht aufeinander, wir sahen uns stumm an. Wir saßen nur im Kellerflur, ohne geschlossenes Gewölbe über uns. Wenn ein Treffer ins hiaus ging, mußte der ganze Segen die Kellertreppe hinunterprasseln. – Frauke hatte sich auf die Treppe hingepackt mit noch einem anderen halbwüchsigen Mädchen, sie hielt den Stuhlsitz nicht mehr aus. Ich hatte auch mein bequemes Lager räumen müssen für einen Kranken, der noch mitten in der Nacht hereingeführt wurde. Diechen zog es vor, lieber zu stehen, als sich auf ihrem Sitz weiter zu quälen. Autho hockte in einer ganz verdrehten Haltung auf unseren beiden Köfferchen, den Hut überm Gesicht, den Kopf auf meinen hochgezogenen Füßen. Er schlief jedoch. Im Kellergemach unserer Gastgeber war schließlich auch alles in Schlaf gesunken, nur einmal sah ich M. vorsichtig über die Schlafenden auf der Treppe hinwegsteigend mit einer schmalen Leiste in der Hand von oben herunterkommen. Ich war etwas verwundert, was wollte er damit? Am nächsten Morgen sah ich dieses Stöckchen auf seinem Sitz gegen die Wand gestützt stehen, er hatte es als Lehne gebraucht. Wir lachten sehr, wir schütteten uns vor Lachen nach dieser Nacht, in einer überreizten Fröhlichkeit. Frauke fühlte alle Treppenstufen in ihrem Rücken, Autho war ganz verrenkt.
An diesem Morgen wuschen wir uns, ehe wir in der Küche frühstückten, Autho rasierte sich, wir hatten alle das Gefühl, daß wir das Schlimmste überstanden hätten. Wir halfen Frau M. etwas in der Küche, aber zwischendurch gab es immer wieder eine überstürzte Flucht in den Keller. Nachdem Frau am Ende morgens früh wieder dagewesen war, hatte M. endlich nachgegeben und ihre Hunde erschossen. Sie hatte dabeigestanden und zugesehen. Er war recht erschüttert von ihrer Kaltblütigkeit. Als Dank für den Liebesdienst hatte sie ihm ein Bild ihres Mannes verehrt, ein schönes, wertvolles Gemälde. Wir wunderten uns, daß sie sich davon hatte trennen mögen und sprachen darüber, da meinte Autho plötzlich „sie hängt sich auf“. Frau M. meinte, man hätte sie nicht allein lassen dürfen, es war uns plötzlich klar, warum sie die Hunde beseitigt haben wollte. Sie war eine überzeugte Patriotin gewesen, mit dem Untergang Deutschlands ging ihre Welt unter. Unsere Vermutung fand schnelle Bestätigung. Sie hatte einen Brief an die Polizei geschrieben und mitgeteilt, wo man sie suchen sollte. Man fand sie bald mit durchschnittenen Pulsadern. Die Enkel von M., die sich wie alle Welt vor ihren großen Hunden gefürchtet hatten, riefen frohlockend ihren Spielgefährten über die Straße hinweg zu: „Die Hunde sind dod, und Frau am Ende is auch all dod!“ Von den zwei Babys, die noch im Keller geblieben waren, war das eine ein Russenkind.
Die Mutter (Anna Saemann) war für diese „Schmach“ in ein Zuchthaus gesteckt worden, der Vater war – wer weiß wo – abgeblieben, aber die kleine Katharina strotzte von Leben mit runden Bäckchen, großen braunen Augen und prallen Gliedern. Sie war fast so groß wie breit, ihre Ärmchen und Händchen kuckten blau vor Kälte aus den Ärmeln des Jäckchens, aber das machte ihr gar nichts. Sie war die ganze Zeit immer zufrieden und lebhaft, sie streckte sich und hoppste auf dem Schoß, elf Monate war sie alt. Autho war ganz vernarrt in sie.
Die letzte Stunde im Keller verspielten wir mit ihr. Wir hatten begründete Hoffnung, dass wir es bald überstanden hatten, die Truppen mussten nahe vor unserem Dorfe stehen, sie hatten sich eingenebelt, und die Salven, die nahe am Berg zu hören waren, erkannte Autho als Panzerkanonen. Es hieß dann auch nach einiger Zeit, dass die ersten Panzerspähwagen die Schneise hinauf ins Dorf gefahren seien und bereits am Gemeindebüro hielten. Inzwischen kochten wir in Meyerdierks Küche Mittagessen, ein richtig schönes Mittagessen mit Kalbsschnitzel und jungen Erbsen. Gerade hatten wir gespeist, es war schon eine Zeitlang kein Schuss mehr gefallen, – da sahen wir durchs Fenster wie die Engländer einzogen. Ja, da waren sie! Endlich waren sie da, und es war wie ein Einzug auf der Bühne. Es waren Infanteristen, in lockerer Reihe die Straße von Worphausen heraufkommend, vorauf ein einzelner, eine Maschinenpistole in der Hand. Er stutzte eine Sekunde, als er Autho am Fenster erblickte, ging dann aber weiter und die anderen folgten, die Gesichter rot von Luft und Sonne. Lautlos federnd bewegten sie sich vorwärts, die Waffe schußbereit in der Hand. Wir hatten rasselnde Panzer erwartet und nun dieses geräuschlose Schauspiel. Mitten in dem Soldatenaufzug rollte langsam ein Auto, durch ein rotes Kreuz auf einem weißen, über das Verdeck gespannten Tuch als Sanitätswagen gekennzeichnet. Frauke glaubte, Frau Dr. Lotz darin zu erkennen, und wahrhaftig, sie war es auch. Wie wir nachher erfuhren, war sie den Engländern entgegengefahren, um sie aufzufordern, das Dorf zu besetzen, da die letzten deutschen Soldaten am Morgen abgezogen waren. Wahrscheinlich hatte sie durch diese entschlossene Tat dem Dorf ein weiteres Bombardement erspart, wenn es stimmte, was sie verbreiten ließ, dass die Engländer die Einnahme erst für den nächsten Tag vorgesehen hatten.
(Anm. der Redaktion: Über diesen Vorgang gibt es widersprüchliche Aussagen. Andere Zeitzeugen meinen, Frau Dr. Büttner und Ina von Voss in dem Sanitätsauto erkannt zu haben).
Wir holten alle Leute aus dem Keller herauf, und während wir in aller Aufregung im Stehen eine Tasse Kaffee tranken, wozu Frau M. uns nötigte, sahen wir auch schon die Motorräder hin- und herflitzen, die Quartier machten. Der erste Quartiermacher fuhr auf Frau am Endes Hof. Wir packten nun in aller Eile unsere Siebensachen zusammen und liefen nach Haus durch Käthas Garten. Wir nahmen uns keine Zeit, den Schaden an ihrem Haus zu besehen, kletterten über die abgesplitterten Bäume und rannten weiter. Nebenan bei Schwarz wimmelte es schon von Khaki-Uniformen. Aber bei uns war noch alles ruhig. Das Haus stand! Unsere Flüchtlinge waren noch ziemlich mitgenommen von dem Panzerbeschuss in den Wald hinein, von dem wir bei Meyerdierks nicht viel gemerkt hatten. Im Garten waren im Erdreich und an Baumstämmen Einschüsse zu sehen. Bei der Vernebelung hatten die Frauen, im Bunker sitzend, gemeint, das Haus brenne, so hatte es rundherum gequalmt. Aber nun war es überstanden, man konnte es noch nicht begreifen. –
Ich ging ins Badezimmer, um mich erst mal etwas zu säubern, da rief Frauke vom Flur aus. Sie sah einen Stahlhelm über der Mauer von Schwarz auftauchen, ein Mann sprang herüber. Der erste Tommy betrat, den Revolver aus der Tasche ziehend, unser Haus. Ich ließ die Wascherei und eilte hinunter, um Autho mit meinen Sprachkenntnissen zu Hilfe zu kommen. Er saß im Wohnzimmer mit Kämpf und einem anderen Arbeiter aus dem Cetto-Betrieb (unbegreiflicherweise hatten diese beiden Männer in diesen Augenblicken nichts Wichtigeres zu tun, als sich für den Wagen in unserer Garage zu interessieren, warum eigentlich, wusste Kämpf wohl selber nicht). Drei Männer in Hut und Mantel, das musste dem Engländer einigermaßen verdächtig erscheinen. Autho ging ihm sogleich mit einem Lächeln entgegen. Als ich dazu kam, zog der „Conquerer“ bereits Schubladen und Schranktüren auf, er suchte nach Fotoapparaten und. Waffen. Ich nahm meine paar Brocken Schulenglisch zusammen und verneinte ihr Vorhandensein. Es war ein hübscher Junge, wie aus einem Hollywoodfilm, tadellos angezogen, sehr selbstsicher. Er tat ziemlich schroff, betrachtete aber doch voll Interesse die Flasche Rotwein, die Autho im lächelnd hinhielt. Er hielt sie fest, Autho sagte ganz laut „er nimmt sie mit, der Laumann!“ Ich sagte, es wäre unsere einzige Flasche, und wir hätten die Absicht, sie auf den Frieden zu trinken. Inzwischen hatte er sie aber auch wieder aus der Hand gestellt und ging ins gelbe Zimmer, dann auch nach oben. Wir gingen mit, Autho und ich fanden die Situation ziemlich komisch. Der Engländer merkte es wohl, vielleicht riss er darum umso forscher an Türen und Schubfächern, auch im Zimmer der Flüchtlinge, warf aber kaum einen Blick hinein, bei dieser Methode hätte er nie im Leben etwas finden können.
Mit einem Mal fiel mir ein, dass er in meinem Schrank unten im gelben Zimmer auch die Fotoapparate übersehen hatte, ich hatte sie vollkommen vergessen gehabt. Und da tat ich etwas sehr Törichtes. Während er nämlich im Flur mit den Rucksäcken der Flüchtlinge beschäftigt war, flüsterte ich Diechen im Zimmer zu, sie solle die Sachen aus dem Schrank entfernen, Durch die offenstehende Tür hatte er mich indessen beobachtet und nahm mich darauf argwöhnisch in ein Verhör, um zu erfahren, was ich gesagt hatte. Ich tat, als verstünde ich seine Frage nicht, und als er sie englisch wiederholte, tat ich ebenfalls verständnislos. Er fixierte mich scharf: Ob wir Soldaten im Haus hätten? Das also war seine Sorge. Er traute den drei Männern nicht, fragte nach ihrem Alter usw. Er sah eine Landkarte auf dem Tisch liegen, steckte sie ein, und ging schließlich nach einigem Zögern hinaus, ums Haus herum, in den Bunker, den Schuppen, die Garage.
Ich hatte ihn mit Autho allein gehen lassen, der Schreck war mir in die Glieder gefahren. Die Situation erschien mir keineswegs mehr so lächerlich wie vorher. Wir befanden uns im besetzten Gebiet, und galt uns persönlich der „Feind“ auch nicht als solcher, so sah er ihn doch in uns. Als ich draußen wieder zu den beiden trat, betonte der Engländer noch einmal mit Nachdruck, dass auf Verbergen eines deutschen Soldaten die Todesstrafe stünde. Nun, in dieser Beziehung war mein Gewissen unbelastet, und ich konnte ihm lächelnd sagen, wie froh wir wären, dass der Krieg nun für uns zu Ende sei. Sofort blitzte er mich an, der Krieg sei allein unsere Schuld. Wir versicherten ihm, dass wir keine Nazis seien, was er uns zu glauben schien, denn sein Gesicht nahm einen zugänglicheren Ausdruck an. Er verschand dann mit einem „Okay“ durch die Hecke ins Schulgrundstück. Autho hatte gerade die Fotoapparate vergraben und stand noch mit dem Spaten in der Hand, als die beiden nächsten Tommies über die Mauer kletterten. Er sagte ihnen, dass ein Kamerad von ihnen bereits dagewesen wäre, worauf sie gar nicht erst ins Haus kamen. Den ganzen Nachmittag sahen wir Soldaten durch den Garten spazieren, zwei von Ihnen lud Autho zu einem Glas Wein ein, nach dem sie ihm Zigaretten angeboten hatten.
So wurde die Flasche doch noch leer. Einer von den beiden hatte rundes, freundliches Gesicht, das sofort für ihn einnahm. Wir verständigten uns mit ihm ganz gut. Er fragte uns, ob man den deutschen Soldaten Angst gemacht hätte, sie würden bei ihrer Gefangennahme erschossen, er konnte sonst nicht verstehen, warum sie so nutzlos weiterkämpften und sich nicht ergeben. Ich konnte ihm nicht gut sagen, dass sie eher Angst hätten, aus den eigenen Reihen erschossen zu werden, und versuchte, ihm das preußische Pflichtgefühl zu erklären, was mir aber anscheinend nicht gelang.
Autho fürchtete sehr, dass wir nun mit deutschem Artilleriebeschuss rechnen müssten. Auch von unserem Dorf aus hatten ja die deutschen Nebelwerfer ununterbrochen gefeuert. Also noch einmal eine Nacht in den Keller! Wir bepackten uns von neuem mit unseren Siebensachen und hängten uns einem freundlichen Tommy an, der uns bis Meyerdierks brachte. Wir durften um 9 Uhr nicht mehr auf der Straße sein, Männer sollten sich überhaupt nicht sehen lassen. Ich hatte ein sehr unbehagliches Gefühl, das Haus allein der Obhut der Flüchtlingsfrauen zu überlassen, aber wir hatten keine andere Wahl, und es war auch keine Zeit, lange zu überlegen.
Den Meyerdierkschen Kellerflur hatten wir diesmal für uns allein, deshalb war es auch wohl so kalt. Wir schliefen alle nicht trotz unserer Verpackung, es war scheußlich ungemütlich. Diechen allein war oben geblieben im Zimmer auf der Couch, ich kletterte schließlich auch nach oben, um mich zu ihr zu legen und Frauke meine Decke noch zu überlassen. Da aber Tine Meyerdierks Bett mit warmem Deckbett lockte, sank ich dort hinein. Die Nacht war geräuschvoll genug, aber es waren nur die Geschosse der englischen Artillerie, die über uns hinwegheulten, es kam von deutscher Seite nichts zurück.
Früh am nächsten Morgen gingen wir nach Hause zurück, von keinem der Soldaten, die frisch und ausgeschlafen herumliefen, behelligt. Aber im Eingang unseres Hauses sahen unsere Flüchtlinge uns mit grauen Gesichtern entgegen. „Es ist alles gestohlen, Ihre ganzen Koffer sind fort!“ – Während sie gegen Mitternacht im Bunker saßen, waren zwei Männer mit Taschenlampen in die offen stehende Haustür hineingegangen und hatten das ganze Haus durchsucht, Einigermaßen bestürzt sahen wir die Bescherung: alle Koffer waren geöffnet und durchwühlt, alle Kästen und Kästchen geöffnet, aber wir stellten schnell fest, dass nichts fehlte. Unsere „Juwelen“ hatten wir im Köfferchen bei uns gehabt. Diechens Ring, den sie offen auf dem Tisch am Kamin hatte liegen lassen, war übersehen worden, nur meinen Füllfederhalter vermisste ich schließlich. Das Symbol meiner Schreiberei ging als Beute fort.
Später sagte ich dem Soldaten, der uns am Abend so nett begleitet hatte, wie enttäuscht ich über diesen nächtlichen Raubzug wäre (den Flüchtlingen war Schmuck gestohlen worden), wir hätten den Engländern so etwas nicht zugetraut. Er war verlegen und entschuldigte sich, es wären in einer Truppe immer unzuverlässige Elemente. Es war ja auch eigentlich töricht von uns, Gentleman-Krieger zu erwarten, und nach sechs Jahren Krieg auf Anständigkeit bei den Siegern zu rechnen, nach allem, was sie in Holland, Belgien, Frankreich von unserem eigenen Auftreten gesehen hatten, dazu bei der Propaganda, die jeden Deutschen zu einem Kriegsverbrecher stempelte. Im Dorf war es in manchen Häusern übel zugegangen, geplündert und zerstört worden, den Frauen wurde der Trauring vom Finger gezogen und sogar Lebensmittel wurden gestohlen trotz der fabelhaften Verpflegung, die die Soldaten empfingen. Aber die Törichten sind wir, weil wir solche Dinge nicht erwarteten. Als ob die menschliche Natur sich verändert hätte, seit den Tagen der Landsknechte, und als ob Plündern, Stehlen, sinnlose Vernichtung und Freude am Schrecken der Anderen, kurzum das Auskosten der bösen Lust, Sieger zu sein, aus diesem Kriege etwa ausgeschaltet wären! Autho wusste ein Liedchen davon zu singen, wie deutsche Soldaten sich in ähnlicher Lage benahmen!
Vieles war seltsam und unerwartet an diesem letzten Augenblicke des Krieges – das Seltsamste jedoch war, wenn man es recht überlegt, der Ausfall jeder Art von Technik, vor allem der Nachrichtenübermittlung durch Radio und Zeitung – das Versagen der Technik am Schluss dieses Krieges, der im letzten Grund um der Technik und ihrer Folgen willen und mit der Technik und allen ihren raffinierten Mitteln geführt worden war. Wir wussten nicht, was im nächsten Dorf geschweige denn, was in den übrigen Teilen des Landes geschah. Die Männer, die zwölf Jahre lang das Volk keinen Augenblick aus den Klauen gelassen, ihm jeden Schritt vorgeschrieben hatten, sie schwiegen nun – regierten sie noch, warfen sie noch mit Irrsinnsparolen um sich, lebten sie überhaupt? – In der beschränkten Ausgehzeit, die uns gestattet war, liefen Frauke und Diechen ins Dorf um zu hören, wie unsere Freunde die Tage überstanden hatten. Glücklicherweise war keinem ein Leid geschehen. Einige Häuser im Dorf waren beschädigt, aber im Vergleich zu dem Bombardement war es doch nur ein geringer Schaden. Im Dorf war ein lebhaftes Treiben von Soldaten und Zivilisten. Die kleinen Panzerwagen sausten durch den Ort, neue Truppen trafen ein, Geschütze wurden aufgestellt. Die Mädchen weigerten sich, noch eine Nacht in Kleidern zu schlafen, aber Autho war skeptisch bis zuletzt. Es kam jedoch von der deutschen Front, die jetzt vor Osterholz verlief, kaum einmal eine Antwort auf den heftigen Beschuss aus vierzig Geschützen, die hinter dem Berg aufgestellt waren. Wir fassten allmählich Zutrauen zu unserer Lage und fingen langsam an, unsere Wohnung etwas aufzuräumen, es sah wüst genug darin aus nach all den aufregenden Tagen. Die Kinder hätten am liebsten gleich unsere ganzen Sachen ausgekuhlt, aber das wäre denn doch mehr als leichtsinnig gewesen in Anbetracht der trüben Erfahrungen, die andere mit den Soldaten gemacht hatten.
Am 4. Mai kam mittags ein Engländer zu uns in die Küche und schwatzte eine Weile mit uns. Nachmittags kam er wieder und kramte Bonbons und Schokolade aus den Taschen, Autho kriegte Zigaretten. Es war nicht schwer zu erraten, dass Frauke, das „big Fräulein“, der Anziehungspunkt war. Er war Ire aus Belfast, von Beruf Kraftfahrer. Er hatte den Afrikafeldzug mitgemacht, war auf Sizilien gewesen, hatte dann in der Bretagne die Invasion mit durchgekämpft und hatte den Krieg satt, so wie sie ihn überhaupt alle satt hatten, die bei uns gewesen waren. „Krieg is nix gut!“ An diesem Abend gewitterte es in der Ferne. Beim Laut des Donners standen die beiden Flüchtlingsfrauen gleich am Flurfenster in der Meinung, die Beschießung setze von neuen ein, nachdem es den ganzen Nachmittag nahezu ruhig gewesen war. Ich sah durchs Flurfenster wie im Nordosten, wo die Front verlief, Raketen aufstiegen. Was mochte das Zeichen bedeuten?
Zwei Stunden später wussten wir es. Zwischen neun und zehn Uhr klopfte es an unserer Tür, während wir beim kümmerlichen Licht einer Karbidlampe um den Tisch saßen. Wir sahen uns erstaunt an. Wer konnte bei dem Ausgehverbot um diese Zeit zu uns kommen? Es war der Irländer. Er verkündete uns den Frieden. Es war Waffenruhe, die Feindseligkeiten waren eingestellt! Er hatte es gerade am Radio gehört und war aus seiner Baracke auf dem Weyerberg herbeigeeilt, um uns die große Neuigkeit zu überbringen. Fred hieß er, wir hätten ihn alle am liebsten umarmt. Wir konnten es nicht fassen. Der „feindliche Soldat“ kam als Friedensengel, er kam ohne Waffe, dafür mit einer Flasche Rum im Arm. Wir haben sie tapfer ausgetrunken, bis uns allen schwindlig war. Wir verstanden uns gegenseitig ausgezeichnet, wir stellten fest, dass wir die gleiche Meinung hatten über die Ursachen und die Anstifter von Kriegen. Was Autho an Worten nicht verstand, erriet er und machte sich durch Gesten und ich weiß nicht was dem anderen verständlich. Zwei Soldaten zweier feindlicher Nationen zogen in voller Einigkeit am letzten Tag des schrecklichen Völkermordens das Fazit des Krieges: Er war „nix gut“, und keines der beteiligten Völker hatte einen Nutzen davon.
Im Laufe des Abends tauschten wir mit Mr. Fred Andenken aus. Frauke bekam einen Ring geschenkt, einen richtigen Landsknechtsring, sicherlich irgendwo „gefunden“. Er erbat sich dafür ein Foto von ihr und kriegte eines ihrer gemalten Schälchen obendrein. Im Grunde fühlte ich herzliches Mitleid mit dem „Sieger“, der längst nicht so erleichtert war wie wir, weil für ihn der Krieg ja auch tatsächlich noch nicht beendigt war, er fürchtete nicht zu Unrecht, nun nach Japan geschickt zu werden. Als wir uns lange nach Mitternacht zum Abschied die Hände schüttelten, beteuerten wir uns gegenseitig aus aufrichtigem Herzen: „We are very good friends!“
Die Völkerverständigung hatte begonnen.
Anke Ehlers (1897-1948), in erster Ehe verheiratet mit dem Bildhauer Fred Ehlers, war nicht nur eine erfolgreiche Schriftstellerin. Erzählbände wie „Die glückliche Stunde”, „Und immer rundet sich das Jahr” und „Gang in den neuen Tag” erschienen in den Jahren 1943-1948.
Angeregt durch die Kunsthandwerker in Hoetgers „Worpsweder Kunsthütten” fertigte sie auch Bastarbeiten und Wandteppiche aus Binsengeflecht, wie sie auf alten Fotos des „Kaffee Worpswede” noch zu sehen sind. Einer davon aus ihrem Privatbesitz ist erhalten geblieben, ihre Tochter Frauke hat ihn den „Freunden” für die Käseglocke geschenkt.
Nun besuchte uns die Enkeltochter von Anke Ehlers, Sabine Dörner, in der Käseglocke, um den Teppich mit dem sie in ihrem Elternhaus in Bayern aufgewachsen war, wiederzusehen (Foto), und fand ihn „hervorragend sauber restauriert und großartig” in seiner neuen Umgebung, wohl das einzige erhaltene Zeugnis der kunsthandwerklichen Arbeit ihrer Großmutter.