Betrachtungen von Edwin Koenemann, Worpsweder Zeitung, 24.12.1910
Also, Worpswede hat seine Eisenbahn! Die Malerkolonie am Weyerberg, die noch bis vor wenig Jahren den Ruf der Stille und Einsamkeit für sich besaß, hatte heute Fahnen herausgesteckt, um den langerwarteten, feierlichen Tag ihrer Aufnahme in das Schienennetz Europas auch nach außen hin zu zeigen. Für die Geschichte unserer Ortschaft bedeutet es eine Denkwürdigkeit, als heute morgen 8 Uhr der erste Zug – Lokomotive, 4 Personen- und 1 Güterwagen – unsern neuen, festlich geschmückten Bahnhof verließ, um mit 33 Fahrgästen die Reise nach Osterholz anzutreten.
Das heißt: früher wars eine Reise, ob man nun den Umweg über die Teufelsmoor-Landstraße machte oder ob man mit Jan van Moor die Seefahrt Hamme abwärts antrat, die für ängstliche Gemüter, wie bekanntlich alle Wässerlein keine Balken, wohl aber diverse Untiefen hat und Ecken, um die der ungeübte Seemann trotz größter Mühe nicht herumkommen konnte, wenn der Windgott mißgestimmt war.
Nun ists ein Katzensprung, wenn man die viertelstündige Überfahrt so nennen kann. Bald wird sich unsere Bevölkerung hier an derartige Katzensprünge in Richtung Osterholz oder Gnarrenburg gewöhnt haben und die Hamme wird einsam sein bis auf die Torfschiffer, die nach wie vor ihre schwarzen, lautlosen Boote mit voller Ladung zu Tal führen werden, unbekümmert um die fauchende, eherne Schlange, die da im Morgennebel durch die 3 eisernen Brückenbogen dahindonnern wird.
„Wat, noch nicht half negen? Dor könnt wie bi Rust noch een drinken.“ Es geht der Fahrplan mit der Zeit in Fleisch und Blut der Bevölkerung über und nach einer Weile schon wird die Bahn als etwas ganz selbstverständliches behandelt werden. Vergessen wir über diesem Neuen eine gute alte Freundin nicht: Unsere Postkutsche, die „Eierkiste“, wie sie scherzend mancher an edlere Beförderungsarten gewöhnte Großstädter nannte, der an klaren Sommertagen den Weyerberg erstieg. Wie lange hat dieser Wagen dem Verkehr mit der Außenwelt gedient, wieviel Menschenglück und Menschenleid hat er auf seinen 4 Rädern zu uns herein- und wieder hinausgetragen. Bekränzt ihn auf seiner letzten Fahrt und weiht ihm ein stilles Glas! – Und nun zum Schluß ein Rückblick: Zuerst war Alles wüst und leer. Dann kam nach einer Weile Findorff; der setzte die Schaufel an und grub Kanäle. Und wieder nach einer Weile erschienen die Ansiedler und fanden, daß hier schön zu wohnen und gut zu leben sei. Und abermals nach einer Weile kamen die Maler und sagten: „…Oh. wie schön“ und bleiben an dieser einsamen Scholle hängen.
So wurde Worpswede „entdeckt“. Und dieser dreifachen Entdeckung verdanken wir, die wir an dieser Scholle kleben und sie lieben, das Bekanntwerden, Aufblühen und Fortschreiten auf dem Wege zur Kultur, was heute durch die Eröffnung unserer Eisenbahn bewiesen wird. Möge sie ein Zeichen der friedvollen Entwicklung unseres schönen braunen stillen Torflandes sein und bleiben und der Pfiff, der jetzt täglich so oft zum Dorf heraufschallt, soll uns daran erinnern, was einst hier war und was jetzt hier ist.
Handschriftliche Bemerkung Koenemanns auf dem Zeitungsrand: „Bin wegen des Ausdrucks Eierkiste vom Omnibusbesitzer wegen Beleidigung verklagt worden!“