Es ist ein weiter Weg von den ganz in der Jugendstil-Idylle verhafteten Bildern und Grafiken, von den feinen Lesungen und romantischen Konzerten im Weißen Saal des Barkenhoffs bis zum agitatorischen Werben für eine kommunistische Gesellschaft in Wort, Tat und Bild – für Heinrich Vogeler war dieser Weg nur konsequent. Er hat Leben und Wirken zu allen Zeiten ineinandergefügt, er hat das, was er dachte und in seiner Kunst ausdrückte, auch gelebt. Dieses lebenslange Streben nach den Idealen, die konsequente Wandlungsfähigkeit hat ihm unter den Worpsweder Künstlern eine Ausnahmestellung eingebracht.
Die „frühen“ Jahre Vogelers, seine Zeit bis zum 1. Weltkrieg mit den großen Erfolgen als Jugendstil-Künstler in vielen Disziplinen, ist seit Jahrzehnten ausführlich untersucht und beschrieben worden. Das Leben im Anschluss an die für Heinrich Vogeler so einschneidenden Kriegserfahrungen war ebenfalls Gegenstand zahlloser Veröffentlichungen – Christine Hoffmeister, Werner Hohmann, David Erlay, Siegfried Bresler, Bernd Stenzig und viele andere haben dazu einschlägige Beiträge geliefert. Sie konnten dabei auf Zeitzeugenberichte, auf Dokumente in Archiven des Westens und des Ostens zurückgreifen, und sie konnten die 1952 von Erich Weinert herausgegebenen autobiografischen „Erinnerungen“ von Heinrich Vogeler als Quelle heranziehen.
Es nimmt nicht Wunder, dass die bis 1989 aus dem Einflussbereich des realen Sozialismus, also aus der DDR und der Sowjetunion kommenden Zeugnisse und Dokumente nicht alle Aspekte des Denkens und Arbeitens von Heinrich Vogeler offenbarten. Das gilt im Übrigen auch für die Vogeler-Autobiografie, die Weinert auf Wunsch des Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, veröffentlichte. Bis heute weiß niemand, welche Dokumente noch in Archiven lagern und unzugänglich sind, welche Briefe und Selbstzeugnisse Vogelers von Privatpersonen bewahrt werden. Dennoch – einzelnen Autoren ist es immer wieder gelungen, bislang unentdeckte Quellen zum wandlungsreichen Lebensweg auszuwerten und damit unser Bild von Heinrich Vogeler in seinen vielen Facetten zu erweitern und zu vervollständigen.
Seit 1991 gehört der Hamburger Literaturwissenschaftler Bernd Stenzig zum Kreis derjenigen, die den Weg Vogelers systematisch untersuchen, seine auf den ersten Blick nicht immer leicht zugänglichen Texte analysieren und so das Bild des Künstlers runden. Stenzig, der sich seit vielen Jahren in Worpswede engagiert hat, veröffentlichte jetzt das Buch „Heinrich Vogeler und der Expressionismus – Weltanschauung, Kunst, Politik“. Es ist eindeutig das zum jetzigen Zeitpunkt beste Buch über den späten Vogeler, seinen künstlerischen Weg nach 1918 und sein komplexes Denken, das sich Interessierten eher über Aufsätze und Texte als über seine malerischen Arbeiten vermittelt.
Auf etwa 200 aufschlussreich illustrierten Seiten und mit den Belegen von exakt 549 (!) Fußnoten stellt Stenzig die expressionistische Weltanschauung der Nachkriegsjahre, die aus diesem Denken entstehende neue Kunst, das Leben in der Kommune/Arbeitsgemeinschaft/Arbeitsschule Barkenhoff und schließlich den Weg Vogelers in die Sowjetunion und sein Bemühen um die Entwicklung eines dem Sozialismus adäquaten bildnerischen Schaffens vor.
Tatsächlich erweist sich Heinrich Vogeler ab Kriegsende 1918 als ein linker politischer Freigeist, der zwar zeitweilig noch während des Krieges Mitglied der SPD war und von 1924 bis zu seinem Rauswurf 1929 der KPD angehörte, aber auch rätekommunistische Gesellschaftsmodelle propagierte, wie sie der Anarchist Pjotr Kropotkin entworfen hatte. Den auf Herrschaftsfreiheit ausgerichteten „Austritt aus dem Kapitalismus“ (Stenzig) unternahm Heinrich Vogeler mit nur erstaunlich wenigen Gleichgesinnten auf dem Barkenhoff.
Dieses Modell einer kommunistischen Insel machte reichsweit Furore, zog bis zu 10 000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr an und scheiterte 1923/24 aus ökonomischen Gründen kläglich. Der gute Wille der wenigen tatkräftigen Wegbegleiter Vogelers konnte die Inkompetenz in wirtschaftlichen Fragen, die scharfe Ablehnung im Worpsweder Umfeld und aus den Reihen der KPD nicht auffangen – so beschreibt und belegt Autor Stenzig dieses noch heute faszinierende Modellprojekt, das auf dem Barkenhoff 1923 durch die Einrichtung eines Kindererholungsheimes der Roten Hilfe ersetzt wurde.
Schwer nachvollziehbar ist das von Vogeler entwickelte Geschichtsmodell, in dem das Kristall und seine Form das Zeichen für das von ihm propagierte kosmische Urgesetz werktätiger Liebe und der radikalen Nächstenliebe darstellt. Bernd Stenzig beschreibt diese Idee, deren expressionistische, künstlerische Seite Vogeler schon in der Gotik begründet sieht, anschaulich und nachvollziehbar. Die Umsetzung ist in den Bildern und Grafiken Vogelers schon ab 1914 erstmalig sichtbar. Ob die Mitarbeiter des Barkenhoffs in ihrem Kommunarden-Alltag diese Idee durchdrungen haben, muss fraglich bleiben.
Aus der expressionistischen „Kristall-Theorie“ entwickelten sich die 15 Komplexbilder, die Vogeler zwischen 1924 und 1934 malte. In einer auf kristallinen Formen basierenden Flächenordnung zeigte der Maler in einer Art synthetischem Realismus Szenen aus dem Leben in der Sowjetunion. Vogeler glaubte, in dieser neuen Form eine dem sozialistischen System adäquate Kunst entworfen zu haben. Die kosmisch-religiöse Überhöhung verschwand in den Berliner Jahren ab 1923 und dann 1931 nach der Übersiedlung in die Sowjetunion ganz.
Komplexbilder wurden Mittel der Agitation für den Sozialismus. Bernd Stenzig beschreibt diese Kunst und ihre Bedeutung ausführlich, spricht von dem erfolgreichsten Lebensabschnitt Vogelers seit seiner Jugendstilzeit, bis das stalinistische System die Komplexbilder ideologisch verdammt und Vogeler selbst sie in einer Selbstkritik 1935/36 als formalistischen Irrweg verwirft. Der nun propagierte sozialistische Realismus zwingt den in Moskau lebenden und durch das riesige Land reisenden Künstler, den Alltag und die Erfolge beim Aufbau eines neuen politischen Systems zum Gegenstand seiner Kunst zu machen.
Für den linken Freigeist Heinrich Vogeler ist in der Sowjetunion kein Platz mehr. Alle bislang verfügbaren und von Stenzig geprüften Unterlagen lassen nur den Schluss zu, dass sich der einst so eigensinnige Idealist nun im Denken und in seiner Kunst dem repressiven stalinistischen System unterworfen hat. Warum – das muss der Buchautor offenlassen. Ob Vogeler aus Angst oder Überzeugung handelte und arbeitete, lässt sich bis heute nicht feststellen. Den Evakuierungen nahezu aller in Moskau lebenden deutschen Kommunisten im Angesicht der vordringenden Hitler-Armeen entging auch er nicht – im September 1941 wird er nach Kasachstan gebracht und stirbt dort unter erbärmlichen Umständen am 14. Juni 1942 im Alter von knapp 70 Jahren.
Bernd Stenzigs Buch über den späten Vogeler ist wegen der vielschichtigen Darstellung der Kunst und des Lebens unbedingt empfehlenswert, wenn auch vielleicht nicht als erster Einstieg für Leserinnen und Leser, die sich noch nie mit dem Künstler beschäftigt haben. Vogeler für Fortgeschrittene – das trifft es eher.
Bernd Stenzig: Heinrich Vogeler und der Expressionismus, Kellner Verlag Bremen, 248 Seiten, reich illustriert, 24,90 Euro.