Vor 100 Jahren: Eine Malerin geht in die Politik

Am Beginn des Jahres 2019 wurde mit einer Feierstunde im Deutschen Bundestag, mit Veranstaltungen und mit vielen Beiträgen in den Medien an die Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren erinnert. Tatsächlich konnten Frauen im Deutschen Reich erstmalig am 19. Januar 1919 an der Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung teilnehmen und sich auch um ein Mandat als Abgeordnete bewerben. 80 Prozent der Frauen ab 20 Jahre gaben damals ihre Stimme ab, 300 Frauen kandidierten für die Nationalversammlung, in der dann letztlich 37 von 423 Abgeordneten Frauen waren. Über diese epochale Entwicklung auf Reichsebene wird leicht vergessen, dass das neue aktive und passive Frauenwahlrecht auch auf kommunaler Ebene galt. 1908 war endlich das Preußische Vereinsrecht aufgehoben worden – von diesem Zeitpunkt an durften Frauen sich in politischen Vereinen engagieren und auch Parteien gründen und beitreten.

In den Städten des Reiches war diese überfällige Entscheidung ein Selbstläufer – hier hatten Frauen aus dem bürgerlichen und dem sozialistischen Lager schon lange beharrlich für ihr Wahlrecht und für die Gleichberechtigung gekämpft. Auf dem Lande dagegen hatten es Frauen deutlich schwerer, sich gegen die etablierten männlichen Strukturen in der Kommunalpolitik zu behaupten. Manchmal waren es einzelne mutige Frauen, die für das Wahlrecht warben und sich selbst auch um einen Sitz in der Gemeindevertretung bewarben.

In Worpswede war es die Malerin Emmy Meyer (1866 – 1940), die ihr Recht couragiert in die Hand nahm und als erste Frau überhaupt am 3. März 1919 in die Ratsversammlung des Dorfes gewählt wurde. Emmy Meyer war eine Kaufmannstochter aus Hannover, die sich von 1894 bis 1898 an der privaten Malschule der Berliner Künstlerinnen ausbilden ließ. Ein akademisches Studium der Kunst war Frauen bis 1918 nicht erlaubt. In Berlin studierte sie unter anderem bei Margarethe Hönerbach und dem Vordenker des deutschen Impressionismus Ludwig Dettmann. Ob es ihre Mitschülerin Paula Modersohn-Becker war, die Emmy Meyer auf Worpswede aufmerksam machte, ob die beiden Frauen sich überhaupt schon in Berlin gekannt haben, ist ungewiss. Emmy Meyer wechselte jedenfalls 1898 nach Worpswede und wurde dort für zwei Jahre Schülerin von Otto Modersohn – ihre in der Natur und im Atelier entstandenen Landschaftsmotive tragen deutlich die Handschrift des Lehrmeisters, verzichten auf allzu viele Details und zeichnen sich durch eine expressive Malweise aus.

1899 entschloss sich Emmy Meyer, in Worpswede sesshaft zu werden und blieb dort mit Unterbrechung durch einige Studienreisen auch bis zu ihrem Tod 1940. In der Bergstraße ließ sie sich ein Haus bauen, in dem sie unter anderem Zimmer an Kolleginnen wie Clara Rilke-Westhoff vermietete – später nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses fast französisch anmutende Gebäude als „Rosa Haus“ bekannt, in dem einige Jahre auch der Maler Alfred Lichtenford mit seiner Familie lebte.

Emmy Meyer galt als eine wortgewaltige Persönlichkeit, von der ihr Kollege Karl Krummacher später schrieb, sie gehöre zu den aufrechten Menschen, „die sich nicht beeinflussen geschweige denn unterkriegen lassen“. Sie reiste ab 1900 mehrfach nach Paris, schrieb und veröffentlichte Gedichte voller Empathie für die Natur und das Malen. Es fällt auf, dass sie sich während des Ersten Weltkriegs von patriotisch gesinnten Frauenvereinen, die sich für die Soldaten an der Front und für Kriegerwitwen im dörflichen Raum engagierten, fernhielt – jedenfalls findet sich ihr Name im Gegensatz zu dem von Martha Vogeler nicht unter den zahlreichen 1917 in der Worpsweder Zeitung veröffentlichten namentlich gezeichneten Aufrufen für Versammlungen oder die sogenannte Ludendorff-Spende.

Erst nach Kriegsende setzt sich Emmy Meyer für die Wahrnehmung des Frauenwahlrechts ein. Gemeinsam mit Martha Vogeler lud sie zu einer Frauenversammlung am 1. Dezember 1918 in der Schule im Worpsweder Ortsteil Ostendorf ein, bei der mit der späteren Reichstagsabgeordneten Rita Bardenheuer aus Bremen und der Bremer Vorsitzenden im Deutschen Bund für Frauenstimmrecht Auguste Kirchhoff zwei prominente Frauenrechtlerinnen aus der benachbarten Hansestadt auftraten. Wie diese Versammlung ablief, ist im Einzelnen nicht überliefert. Es ist jedoch zu vermuten, dass aus diesem Treffen heraus die Initiative für die Aufstellung einer reinen Frauenwahlliste für die Gemeinderatswahlen geboren wurde. Denn als die Wahlkommission im Februar 1919 die Bewerberlisten für die Kommunalwahl Anfang März veröffentlichte, erschien dort eine Liste der Landwirte, eine der Gewerbetreibenden, eine der Arbeiter und eine reine Frauenliste. Neben „Fräulein E. Meyer, Malerin“ bewarben sich 14 weitere Worpswederinnen, die dem Zeitgeist entsprechend entweder als Fräulein mit einer bestimmten Berufsbezeichnung (Lehrerin, Haustochter etc.) oder als Frau Malermeister Toeppe, Frau Bildhauer Seekamp oder Frau Klempnermeister Rohdenburg, aber nicht mit eigenem Namen, aufgeführt wurden. Emmy Meyer war die Listenführerin, und sie wurde am 3. März auch als einzige weibliche Gemeindevertreterin in das 15-köpfige Gremium gewählt.

Über ihre parlamentarische Tätigkeit ist nichts bekannt. Sie muss der Worpsweder Ratsversammlung über mehrere Jahre und wahrscheinlich zwei sechsjährige Legislaturperioden angehört haben. Als im Oktober 1930 eine Gruppe um den Maler Fritz Mackensen die Auflösung der Gemeindevertretung wegen Unklarheiten im gemeindlichen Rechnungswesen forderte, wird in einem Flugblatt an alle Worpsweder Haushaltungen von den Gemeindevertretern ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Kunstmalerin Fräulein Emmy Meyer mit der Abfassung der Mackensen-Schrift nichts zu tun habe und die darin erhobenen Vorwürfe ausdrücklich missbillige.

Es ist zu vermuten, dass sich Emmy Meyer mit der Machtübernahme durch die Nazis aus der Gemeindepolitik verabschiedet hat. Im Worpsweder Archiv ist neben einem Konvolut von frühen Gedichten auch eine schriftliche Polemik der Künstlerin erhalten, in der sie das Märchen vom Rotkäppchen umdeutet – bei ihr wird der böse Wolf ganz unverhohlen zu einem Nazi, der kleine unschuldige Mädchen frisst.