Die Idee war originell. Der Oldenburger Schriftsteller Klaus Modick entwickelte rund um Heinrich Vogelers berühmtes Gemälde „Sommerabend” einen Roman. Warum, so seine Ausgangsfrage, fehlte auf dem 1905 fertiggestellten Bild ausgerechnet Rainer Maria Rilke auf dem Platz neben seiner Frau Clara Rilke-Westhoff, während doch alle anderen Mitglieder der „Barkenhoff-Familie” von Vogeler beim Konzert auf der Terrasse des Hauses festgehalten wurden. Der Autor erzählt also, wie Rilke und Vogeler zueinander finden, wie Rilke auf den Barkenhoff kommt, dort die Worpsweder Künstlerfreunde kennenlernt. Und er beschreibt die Reise Vogelers zu einer Werkschau in Oldenburg, bei der er für seinen „Sommerabend” ausgezeichnet wird.
Dieser locker-flockig geschriebene Künstlerroman, in dem Modick allen beteiligten Personen klar definierte Rollen zuweist, hat nach seinem Erscheinen im Februar 2015 eine erstaunlich große und positive Resonanz beim Publikum und bei Kritikern gefunden. Wochenlang hielt sich das Buch in der Spiegel-Bestenliste und brachte seinem Autor mehrere Auszeichnungen ein. Damit aber nicht genug: Für viele Leser bot dieser Roman Anlass genug, endlich einmal die Künstlerkolonie Worpswede mit ihren diversen Ausstellungshäusern und vor allem auch den Barkenhoff zu besuchen – für das Worpswede-Marketing war und ist dieser in großen Auflagen verkaufte Bestseller ein wirklicher Glücksfall.
Und doch traf Klaus Modicks Roman in Worpswede nicht auf ungeteilte Zustimmung. In einigen Museumsshops fehlt das Buch gänzlich. Der Grund: Kritiker des Romans werfen dem Schriftsteller vor, er habe die Hauptpersonen und insbesondere Rainer Maria Rilke in ein völlig falsches Licht gerückt, zeichne also ein Zerrbild der Verhältnisse rund um den Barkenhoff. Klaus Modick muss das geahnt haben – er weist am Ende seines durchaus unterhaltsamen Romans explizit darauf hin, dass „Konzert ohne Dichter” ein Werk der Fiktion ist, also literarisch konstruiert ist und damit nicht für bare Münze genommen werden sollte. Selbst für seine Quellen, vor allem die Werke Rilkes und Heinrich Vogelers unter dem Titel „Werden” erschienene Lebenserinnerungen, mag Modick keine Gewähr auf historische Wahrheit geben.
Nun ist etwas sehr Ungewöhnliches passiert – der Hamburger Germanist Bernd Stenzig, ein ausgewiesener Kenner des Rilke-Werkes und der Worpsweder Kunstgeschichte, hat sich den Modick-Roman vorgenommen und dessen Text nun mit einem eigenen Buch unter dem Titel „Rilke und Vogeler – Irreführungen in Klaus Modicks ‚Konzert ohne Dichter´” konterkariert. Im ersten Teil seiner Analyse fasst Stenzig die Fakten zur Freundschaft Rilke-Vogeler zusammen, korrigiert somit die fiktionale Darstellung in Modicks historischem Roman. Für Stenzig hat der Romanautor die zentralen Figuren nicht nur allzu holzschnittartig dargestellt, sondern ihr reales Wesen geradezu ins Gegenteil verkehrt. Rilke verkommt dabei zu einem unsympathischen egozentrischen selbsternannten Genie, Vogelers künstlerischer Ethos wird bei Modick auch nicht ansatzweise deutlich. Tratsch-Geschichten lautet das vernichtende Urteil des Hamburger Germanisten.
Und schlimmer noch: Modick habe in seinem Text ganze Erzählabschnitte den Erinnerungen Vogelers entlehnt. Bernd Stenzigs schwerwiegendster Vorwurf an die Adresse des erfolgreichen Romanautors bezieht sich jedoch nicht auf das Verbiegen historischer Tatsachen. Modick erwecke den Eindruck einer getreuen Wiedergabe von historischen Dokumenten, entstellt sie aber, kritisiert Stenzig. Das sei bei zehn im Roman eingestreuten Dichtungen Rilkes überwiegend der Fall. Exemplarisch stellt Stenzig mehrere Originaltexte des Dichters und Romanfragmente Modicks gegenüber. So belegt er, wie sich der Schriftsteller etwa in seinen Landschaftsschilderungen bei Rainer Maria Rilke nicht nur Anregungen holte, sondern ganze Passagen übernahm, beziehungsweise nur leicht veränderte. Das Fazit von Bernd Stenzig: „Dass Modick Rilke niedermacht und sich hinterrücks bei ihm bedient – darin liegt die tiefe Unredlichkeit seines Romans”.
Solche Unredlichkeiten sind überaus ärgerlich, weil sie der „gemeine Leser” nicht merkt. Ansonsten aber gilt: Klaus Modick kann eine historische Begebenheit in Romanform beschreiben, ausschmücken und verändern, wie er will. „Konzert ohne Dichter” ist und bleibt ein unterhaltender Roman – man darf die Schilderungen nur nicht für bare Münze nehmen und mit Modicks Texten im Hinterkopf die Geschichte der Worpsweder Künstlerkolonie verstehen wollen.
Bernd Stenzig: Rilke und Vogeler – Irreführungen in Klaus Modicks „Konzert ohne Dichter”, Verlag Karl-Robert Schütze, Berlin, ISBN 978-3928589291, 56 Seiten, 8,- € im Buchhandel und in den Worpsweder Museen.