Neuer Film: Heinrich Vogeler in Fiktion und Dokumentation

So ein Leben in 90 Minuten erzählen – das ist große Kunst. Lange hat man in Worpswede darauf gewartet, dass die schillernde Persönlichkeit des Heinrich Vogeler zum Thema eines Films werden würde. Erfolgreicher Künstler und Pionier um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Liebling des Bürgertums, Märchenprinz, Sozialreformer, idealistischer Kommunist – der Lebensweg des 1872 in Bremen geborenen und 1942 in der Sowjetunion gestorbenen Vogelers bietet sich geradezu an, filmisch aufgearbeitet zu werden. Im Auftrag der Produktionsgesellschaft Kinescope Film GmbH haben die Autorinnen Susanne Brahms, Fernsehjournalistin bei Radio Bremen und als Bearbeiterin historische Themenstellungen ausgewiesen, und Marie Noelle, als Filmregisseurin ebenfalls vertraut mit szenischen Darstellungen des Lebens historischer Persönlichkeiten, das Drehbuch geschrieben.

Die Idee des Films beschreibt die in der Bremer Böttcherstraße, in Köln, Hamburg und Berlin ansässige Produktionsfirma im Mediendienst „Blickpunkt: Film“ so: „Ziel dieser gegensätzlichen Ansätze aus Dokumentation und Fiktion ist es, ein vielschichtiges und tiefgreifendes Bild des Künstlers und der Frage nach der damaligen und heutigen Rolle und Aufgabe von Kunst entstehen zu lassen.“ Produzent Matthias Greving greift also auf eine filmische Form zurück, die Regisseur Heinrich Breloer so meisterlich in der Zusammenführung von historischer Realität und nicht unbedingt wahrhaftiger Spielszenen in seinen Dokudramen über die Manns, Brecht und etliche politische Heroen entwickelt hat. Regisseurin Marie Noelle, langjährige Wegbegleiterin von Herbert Achternbusch und mit Kinofilmen über Marie Curie (2015/16) und Ludwig II. (2011/12) hervorgetreten, soll nun Heinrich Vogeler und sein bewegtes Leben in Szene setzen. Ob dieser biografische Dokumentarfilm 2021 in die Kinos kommt und/oder im Fernsehen gezeigt wird, stand zur Zeit der Produktion noch nicht fest.

Mit dieser Form der Dokumentation/Fiktion betritt Produzent Matthias Greving Neuland bei der Aufarbeitung des Lebens Heinrich Vogelers. Bisher wurden lediglich zwei dokumentarische Filme über Leben und Werk des Mitbegründers der Worpsweder Künstlerkolonie gedreht: 1983 von Georg Bühren für den Norddeutschen Rundfunk und 1992 von Sibyll Wagener für den Bayerischen Rundfunk. Zudem entstanden seit dem Jahr 2000 drei theatral angelegte Produktionen: „Heinrich Eduardowitsch – Archäologie eines Traums“ von der Cosmos Factory Theaterproduktion (2000), „Vogeler“ als Tanztheaterstück von Johann Kresnik (2003) und „Künstler“ von Tankred Dorst und Ursula Ehler (2008). Zudem gibt es eine schier unübersehbare Zahl von Publikationen und Katalogen zum Leben und Werk Vogelers, deren Übersicht auf der Website der Heinrich-Vogeler-Gesellschaft zu finden ist. Darunter sind auch einige Romane, die sich dem Künstler teils sehr frei und fern der historischen Begebenheiten widmen.

Der neue Vogeler-Film entstand unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Pandemie ab Frühjahr 2020 in Berlin, Bremen, München und an verschiedenen Orten in Norddeutschland, darunter natürlich Worpswede. In der Landschaft um das Dorf, auf dem Barkenhoff und in der Käseglocke fanden die Dreharbeiten statt, die wegen der Pandemie wochenlang unterbrochen werden mussten. Mehr noch: Die Corona-bedingten Begrenzungen führten sogar zu Veränderungen im Drehbuch. Dabei wurden während der Aufnahmen am Barkenhoff alle Hinweise auf die Gegenwart kaschiert. Gleiches gilt für das in der Käseglocke befindliche Schlafzimmer, in dem die Hochzeitsreise von Heinrich Vogeler und seiner zweiten Frau Sonja Marchlewska auf einem Schiff „erfunden“ und von Kameramann Christoph Iwanow aufgenommen wurde. Dort erklärt Sonja ihrem Heinrich, dass sie mit Sohn Jan schwanger ist.

In Bremen sollte in der von Vogeler entworfenen Güldenkammer des Rathauses und auf dem Gelände des früheren Kaffee Hag-Werkes im Holz- und Fabrikenhafen gedreht werden. Dort wurden in den leerstehenden Gewerbehallen unter anderem Szenen aus der Moskauer Zeit Vogelers gefilmt.

Für diese von der Nordmedia unterstützte Produktion hat Kinescope-Geschäftsführer Matthias Greving eine ganze Schar prominenter Schauspielerinnen und Schauspieler gewinnen können. Heinrich Vogeler wird von Florian Lukas dargestellt. Der 1973 in Berlin geborene Akteur war unter anderem in Filmen wie „Absolute Giganten“ (1999) und „Good Bye Lenin“ (2003) sowie in Fernseh-Serien wie „Weissensee“ (2010) zu sehen und gewann neben dem renommierten Bayerischen Filmpreis auch den Deutschen Filmpreis. Florian Lukas war von der Atmosphäre Worpswedes so begeistert, dass er an seinen freien Tagen mit seiner Frau in dem Ort blieb und sich von Bürgermeister Stefan Schwenke durch das Rathaus und die Mühle führen ließ. Martha Vogeler ist mit Anna Maria Mühe ebenfalls prominent besetzt, Alyce Dwyer übernahm die Rolle der Sonja Marchlewska. Johann von Bülow spielt Rainer Maria Rilke, die junge Naomi Achternbusch die Malerin Paula Modersohn-Becker und Uwe Preuss den Fabrikanten und Mäzen Ludwig Roselius.

Diese und weitere bekannte Darstellerinnen und Darsteller dürften den fiktiven Teil des Vogeler-Films interessant gestalten. Die Spielszenen, für die die Drehbuchautorinnen eine Begegnung Vogelers mit dem Bildhauer Auguste Rodin erfanden und auch das berühmte Bild des „Sommerabends“ auf der Gartenterrasse des Barkenhoffs nachstellten, nehmen etwa ein Drittel des Films ein. Für die dokumentarische Abschnitte der Produktion, immerhin gut eine Stunde mit Interviews und dokumentarischem Material, engagierte Matthias Greving erstaunlicherweise Experten, die in der Vergangenheit noch nicht als Verfasser kulturhistorischer Texte zu Leben und Werk Vogelers aufgefallen sind. Unbestritten ist die Sachkenntnis der Worpswederin Daniela Platz als Mitglied der weitläufigen Vogeler-Familie, und auch die überlieferten Interviews mit dem 2005 verstorbenen Jan Vogeler könnten das Leben Heinrich Vogelers in Berlin und in der Sowjetunion erhellen. Ansonsten fällt auf, dass die durch eine Vielzahl von kulturhistorischen Veröffentlichungen hervorgetretenen Kenner des Vogelerschen Lebens und Werkes offenkundig nicht als Experten oder Protagonisten zu Rate gezogen wurden.

Die vom Produktionsteam eingebundenen Kunsthistoriker, Philosophen, Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler sind in der Vogeler-Bibliografie jedenfalls nicht vertreten. Allerdings darf man gespannt sein, wie der Maler Norbert Bisky oder die Performance-Künstlerin Marina Abramovic die Rolle und die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst in der Gegenwart in Bezug zum so wechselvollen Leben und Wirken Vogelers setzen.