Nachruf auf Karl-Robert Schütze

Am 16. Mai 2017 ist in Berlin der Kunsthistoriker, Publizist und Verleger Dr. Karl-Robert Schütze nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. Freunde und Nachbarn haben von ihm am 6. Juni 2017 auf einer evangelischen Trauerfeier mit anschließender Beerdigung auf dem Städtischen Friedhof Berlin-Biesdorf Abschied genommen. Seine hochbetagte Mutter konnte nicht an der Beerdigung ihres einzigen Kindes teilnehmen. Die Trauergäste konnten ihre Anteilnahme aber doch der jahrzehntelangen vertrauten Freundin und Arbeitspartnerin des Verstorbenen, der Berliner Historikerin Angelika Friederici, bekunden.

Karl-Robert Schütze hat sich große Verdienste um die Aufarbeitung, Bewahrung und Vermittlung der Worpsweder Kunstgeschichte und zumal von Vogelers Werk erworben und im Künstlerort viel freundschaftliche Zuneigung gefunden. In den Worpsweder Reaktionen auf seinen Tod mischt sich in die Bestürzung der Wunsch, mehr über ihn zu erfahren, der so wenig Aufhebens von sich gemacht hat und sich so sehr hinter die Sache zurückgestellt hat. Er hätte jedes Recht gehabt, viel von sich her zu machen. Der Rückblick auf sein Schaffen, wie er aus seinen Schriften, Ausstellungen und den Zeugnissen seines unmittelbar öffentlichen Wirkens möglich wird, zeigt einen Weg voller Tatkraft und Produktivität, höchst weitgespannter Interessen und Aktivitäten. Das meiste haben wir gar nicht gewusst. Er war zu zurückhaltend und bescheiden, um groß von sich und seinen Taten zu reden.

Der Anfang war schwer: Geboren am 14.10.1944 in Forst/Lausitz, als seine Mutter Hildegard Schütze, wohl auf der Flucht vor der Roten Armee, auf dem Weg von Verwandten von Marienburg (Ostpreußen) nach Berlin-Mahlsdorf zu ihren Eltern war; der Vater, Diplomlandwirt Dr. Karl-Heinz Schütze, ist seit 1944 verschollen. Aber der Weg von Karl-Robert Schütze ist von vornherein auch begünstigt gewesen: Von seiner geliebten Mutter (Lehrerin, heute Studiendirektorin im Ruhestand), der er ein folgsamer Sohn war, hat er die denkbar beste Förderung erfahren. Später waren sie oft zusammen auf Reisen. Lange Jahre konnte man ziemlich sicher sein, auf Ausstellungen in Worpswede den Sohn nicht ohne die Mutter anzutreffen. Von zwei großen Reisen nach China und in die Mongolei zeugen gemeinsam verfasste Berichte, die Karl-Robert Schütze zunächst im Selbstverlag herausgegeben hat (1974 bzw. 1980). Nach der Gründung seines eigenen Verlags im Jahr 1991 wurde er auch Verleger der Reiseaufzeichnungen seiner Mutter, die es noch mehrfach in den Fernen Osten gezogen hat.

Wer sich den Ausbildungsweg von Karl-Robert Schütze vergegenwärtigt, erlebt eine kleine Überraschung. Er hat weit mehr als hundert wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Schriften veröffentlicht, die oft im Zusammenhang mit den mehr als drei Dutzend Ausstellungen entstanden sind, die er konzipiert, durchgeführt, mitgestaltet und/oder betreut hat. Aber ursprünglich war gar nicht die Wissenschaft sein Ziel, sondern die Praxis. Nach der Berliner Schulzeit und dem obligatorischen zweijährigen Praktikum – einschließlich Arbeit in der Schreinerei und Einführung in die Kunstmalerei – hat er 1966 bis 1969 ein Studium der Innenarchitektur erfolgreich absolviert. Seine künstlerische Ader tritt deutlich hervor, wenn man die schön gestalteten Bücher seines Verlags zur Hand nimmt; 1998 ist er auch mit einer Ausstellung seiner Fotos im Rathaus Berlin-Tempelhof hervorgetreten.

Aber da war die Entscheidung schon lange für die Forschung gefallen. Karl-Robert Schütze hat 1969 bis 1980 an der Technischen Universität Berlin die Fächer Kunstgeschichte und Neuere Geschichte studiert, er erwarb dort im Mai 1975 in diesen Fächern den akademischen Grad Magister Artium und promovierte im Mai 1980 zum Dr. phil.

Seine Dissertation über das architektonische Werk von Heinrich Vogeler (Buchveröffentlichung 1980) ist immer noch die maßgebliche Arbeit zum Thema und wird dies wohl auch ewig bleiben. Nicht weil sich niemand mehr damit befassen würde, sondern weil sie – wie vielleicht alle seine Publikationen – etwas Endgültiges hat. Alle seine Arbeiten beruhen auf intensivster Ermittlung und Erschließung der Quellen – endlos die Zahl der Archive, die er durchforstet hat, nicht aufzurechnen die Akten und Dossiers, die er gesichtet hat, nicht zu überschauen die Korrespondenzen und Gespräche, die er geführt hat, bevor er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hat. Auf diese Weise sind Arbeiten von größter wissenschaftlicher Genauigkeit und Zuverlässigkeit entstanden, ausgezeichnet dokumentiert, schlüssig aufgebaut, behutsam resümierend und einordnend und nirgends ins Ungefähre sich verlierend. Dabei trumpft er nie auf mit seinen Funden und Erkenntnissen, die Polemik, die Besserwisserei, die schneidende Belehrung anderer waren seine Sache nicht.

Karl-Robert Schütze wurde bis in die leichte Färbung der Stimme hinein durch und durch Berliner, aber einer von der selteneren stillen Art. Über die Ost-West-Problematik in der jahrzehntelang geteilten Stadt war er jeweils aktuell bestens im Bilde. Zwar kam er mit seiner Mutter schon 1953 als 9jähriger aus dem Ostteil (Mahlsdorf) in den Westteil (Tempelhof) der Stadt, wo er schließlich seine eigene Wohnung in Berlin-Neukölln bezog, aber seine Tante (die einzige Schwester seiner Mutter) blieb im Osten, und eine ganze Reihe von Besuchsreisen ermöglichte die eindrückliche Erfahrung beider Seiten. Nach dem Mauerfall und der Rückübertragung des Häuschens in Biesdorf, das sein Großvater väterlicherseits Anfang der dreißiger Jahre erbauen ließ, ging Karl-Robert Schütze 1996 zurück in den – nun früheren – Ostteil Berlins.

Karl-Robert Schütze wurde jedoch auch zu einer Art Worpsweder. Den eigentlichen Ausgang der intensiven Beziehung bildeten die Jahre 1978 bis 1980.

Monatelang hat er während der Beschäftigung mit seiner Dissertation sein Arbeits- und Nachtlager im von Vogeler entworfenen, damals ungenutzten Worpsweder Bahnhof aufgeschlagen, eifrig hat er im Worpsweder Archiv bei Hans-Herman Rief Vogelers Architekturzeichnungen studiert und daraus auch eine verlässliche detaillierte Beschreibung des ursprünglichen Zustands des Worpsweder Bahnhofs erarbeitet. Beteiligt ist er gewesen an den Überlegungen von Rief und der Vogeler-Familie, wie der Vogeler-Nachlass vor einer künftigen Aufteilung bewahrt werden könne. Wenn der Worpsweder Bahnhof heute in altem Glanz erstrahlt und ein Magnet geworden ist, dann ist das in erster Linie ein Erfolg der „Freunde Worpswedes“ unter dem Vorsitz von Fritz Netzel, und wenn das Worpsweder Archiv schließlich als Ganzes in die Barkenhoff-Stiftung übergegangen ist, dann hat dieser glückliche Ausgang viele Mithelfer gehabt. Aber nicht zu übergehen ist die wichtige Rolle von Karl-Robert Schütze bei den Präliminarien und Weichenstellungen. Unbedingt hervorzuheben ist auch noch ein anderes Verdienst. 1978 feierte der „Verein Freunde Worpswedes“, der aus dem von Vogeler mitbegründeten „Verschönerungsverein Worpswede“ hervorgegangen und der älteste Verein für Landschaftsschutz, Denkmalpflege, Baukultur und regionale Tradition in Deutschland ist, sein 75 jähriges Bestehen. Karl-Robert Schütze war in die Vorbereitungen einbezogen und verfasste den Text zur Festschrift, die erste Aufarbeitung der Vereinsgeschichte überhaupt.

Der Worpsweder Bahnhof hat übrigens auch den Schriftsteller und Verleger Karl-Robert Schütze angeregt. 1980, als Autor fast noch ein Debütant, hat er zusammen mit dem Verleger und ersten Archivar der Worpsweder Barkenhoff-Stiftung Peter Elze das Buch „Der Moorexpreß“ über die Bahnlinie Bremervörde-Worpswede-Osterholz vorgelegt, eines der ersten Bücher in Peter Elzes Worpsweder Verlag. Und noch 2011 hat er in seinem eigenen Verlag historische Postkarten von der Bahnlinie mit einem einführenden Text herausgegeben.

Von Karl-Robert Schütze sind nicht viele Fotos bekannt, jedenfalls nicht aus seiner Worpsweder Zeit. Da bietet es sich an, zwei Fotos einzufügen, die übrigens auch zeigen, dass zu den vielen Kontinuitäten seines Lebens auch seine äußere Erscheinung gehört hat. (Man vergleiche die beiden Bilder mit dem Foto von 2015, das weiter oben in dieser Zeitung am Schluss von Peter Groths Rezension eines kleinen Buches aus dem Verlag Karl-Robert Schütze wiedergegeben ist.) Das erste Foto ist 1978 entstanden, als die „Freunde Worpswedes“ gerade den Worpsweder Bahnhof von der Bremervörde-Osterholzer-Eisenbahn gepachtet haben und sich anschicken, ihn zu restaurieren.

Karl-Robert Schütze wird links gerahmt von Manfred Iwersen (Freunde Worpswedes) und Heinz Badke (Betriebsleiter der Eisenbahngesellschaft), rechts von Gerd Stelljes und Fritz Netzel (beide Freunde Worpswedes). Auf dem zweiten Bild von 1980 ist das Werk der Restaurierung vollbracht und Karl-Robert Schütze bei einer Sonderfahrt aus Anlass der Wiedereröffnung des Bahnhofs zu sehen.

Karl-Robert Schütze hat sich nach seiner Worpsweder Zeit auch anderen Themen zugewandt, die sogar in den Vordergrund treten konnten. Aber nie geraten Vogeler und Worpswede aus dem Blick. Es dürfte kaum Aspekte von Vogelers Leben und Werk geben, denen er nicht substantielle Studien gewidmet hätte. Manche dieser Aspekte hat er überhaupt erst entdeckt – wie Vogelers Rolle in dem Berliner Architektenbüro „Die Kugel“ (1927/29) oder die Ausstellungsberichte für die „Moskauer Rundschau“ (1933), die er herausgegeben hat, ohne – wie bei allen seiner verlegerischen Taten – auf klingenden Lohn aus zu sein. Auch einer der frühesten und profiliertesten Versuche, Vogeler in allen Facetten und Stufen seines Werks zu präsentieren, geht auf ihn zurück. Der Katalog zu dieser Ausstellung in Berlin und Hamburg (1983) ist bezeichnend in zweierlei Hinsicht. Zum einen herrscht auch hier die gewissenhafteste wissenschaftliche Akribie, zum anderen verschweigt der Katalog, dass Karl-Robert Schütze seit 1980 der Kopf, Motor und Leiter dieser Unternehmung gewesen ist. Nur als Mitglied der „Arbeitsgruppe“ taucht er im Impressum auf. Unter seinen verlegerischen Leistungen zur Worpsweder Kunst sticht die dreibändige Ausgabe mit Worpsweder Briefen und Tagebuchblättern von und um Carl Hauptmann heraus. Von seinen Schriften zur Worpsweder Kunst ist insbesondere sein Text zur Ausstellung „Der Durchbruch“ (Bremen und Wuppertal 1995) herauszuheben, der anhand vieler, auch neu erschlossener Quellen den sensationellen Erfolg der alten Worpsweder im Jahre 1895 nachzeichnet.

Sein hauptsächliches weiteres Thema als Publizist, Mitarbeiter von Ausstellungen und Verleger wurde Berlin, genauer gesagt: das Berlin besonders des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, und noch genauer gesagt: die in einem weiten Sinne gefasste Alltags-, Sozial-, Technik- und Kulturgeschichte Berlins auf dem Wege zur Weltstadt. Er widmete sich dem historischen Reisebericht mit Berlin-Bezug ebenso wie den Gedenkstätten, dem Wasserbau ebenso wie der Geschichte von Berliner Museen – und mit besonderer Hingabe der baulichen Entwicklung der Stadt und dem Werk einzelner Architekten. Dass seine Kenntnisse und seine Genauigkeit schon im Zusammenhang mit der 750-Jahr Feier Berlins (1987) gefragt waren, überrascht nicht.

Karl-Robert Schütze war den größten Teil seines Berufslebens freiberuflich oder befristet tätig – ab 1998 auch als Hochschul-Lehrbeauftragter für Museumskunde. Zwei Mal haben sich aber doch auch langjährige feste Anstellungen ergeben. 1987 bis 1993 war er wissenschaftlicher Leiter des Landguts und Museums Domäne Dahlem, wo er die Sammlung aufbauen und eine Schriftenreihe herausgeben konnte, seinen größten Publikumserfolg dort konnte er jedoch – ein Liebhaber klassischer Musik – mit einer von ihm initiierten Konzertreihe erzielen. 2004 bis zur Pensionierung 2009 war er dann noch einmal fest im Archiv der Berliner Hochschule für Künste tätig.

Der Tod hat Karl-Robert Schütze aus einem ungebrochen tatkräftigen Wirken gerissen. Vor allem das ambitionierteste Vorhaben seines Verlags ist unvollendet geblieben, die von Angelika Friederici mit ihm als Gestalter und gelegentlichem Beiträger verfassten und herausgegebenen Themenhefte (ab 2008) zu „Castan’s Panopticum“ (Berlin 1869 – 1922). „Castan’s Panopticum“ war eine „Allesschau“, der Anspruch bestand darin, mithilfe von Wachsfiguren und wächsernen Szenerien sowie allen nur erdenklichen Gegenständen und Objekten – kurz mithilfe von nachgebildeten und originalen Sehenswürdigkeiten jedweder Herkunft und Art – die ganze Menschheit und deren Entwicklung vorzuführen. „Castan’s Panopticum“ stellt aus heutiger Sicht ein einzigartiges Spiegelbild der Mentalität und der Publikumsinteressen der Kaiserzeit dar, es ist auch mediengeschichtlich äußerst bedeutsam, und unbedingt ist anzustreben, dass einer der letzten Wünsche des Verlegers in Erfüllung geht und nach 28 bereits vorliegenden Themenheften zu „Castan’s Panopticum“ auch noch die ausstehenden sieben fertiggestellt werden können.

Dr. Karl-Robert Schütze hat als Kunsthistoriker, Publizist und Verleger eine breite Spur hinterlassen, die bleiben wird. Wer ihn persönlich gekannt hat, wird die Erinnerung an einen geradlinigen, ehrlichen, fairen, zugewandten und liebenswürdigen Menschen bewahren. Ich wäre gern weiter sein Autor geblieben.