Reise nach Humi

Zur Entstehung einer Monografie über den Zeichner und Dichter Pit Morell

Dass kein Geringerer als Herkules bei dieser Unternehmung Pate stand, macht die Hommage an den Worpsweder Zeichner und Grafiker Pit Morell keineswegs bedeutender, nur plausibler. Im Schatten der kupfernen Kasseler Monumentalfigur wurde der Künstler 1939 geboren, hinter dessen Rücken verbrachte er die wichtigsten Jahre seiner Kindheit.

Diese Verbindungen fielen mir ein, als es 2017 darum ging, im Schloss Wilhelmshöhe den 300. Geburtstag des Kasseler Wahrzeichnens zu feiern und Künstler, die mit der Region in Verbindung standen, zu einem Beitrag einzuladen. Pit Morell reagierte prompt und lieferte: Zeichnungen des antiken Helden, ganze Bildersequenzen, schließlich die fiktive Genealogie der Großfamilie Herkules. Er schwelgte in solchen Phantasieleistungen, die sein Markenzeichen sind. Nach Ende der Ausstellung, im Frühjahr 2018, sagte ich zu ihm: „Wenn niemand kommt, dich zu deinem 80.Geburtstag zu ehren, dann will ich es tun“.

Es kam niemand, auch keine offizielle Ehrung oder Ausstellung dieses Künstlers, der es länger als jeder andere in Worpswede ausgehalten hat und der fast zwei Generationen lang das künstlerische Image des Dorfes mitprägte.

So also wurde die Idee zu der jetzt im Bremer Donat-Verlag erschienenen Monografie geboren, deren Eigenheit darin besteht, dass ihr Gegenstand stets mitbeteiligt blieb – der Künstler als auskunftsfreudige, aber auch kritische Instanz bei der Darstellung seiner Lebensgeschichte. Dann kam der Gedanke, eine gemeinsame Reise an jene Orte seiner Kindheit in Nordhessen zu unternehmen, deren Gestalt sich im Verlauf von Jahrzehnten zwar immer wieder wandelte, die jedoch unvermindert das Herzstück seiner gesamten künstlerischen Arbeit bilden.

Der Fotograf Rüdiger Lubricht, Mitherausgeber der Monografie, Pit Morell und ich reisten im Frühjahr 2019 in die Landschaft seiner Jugend, an die Quelle des großen „Book of Humi“, an dem er seit seinen Anfängen als Zeichner Mitte der 1960er Jahre kontinuierlich arbeitet. Wer dieses Humi kennen und verstehen will, der kann es am ehesten in den Dörfern, die Morells Phantasieland zum Vorbild gereichen, wo der Künstler – nach mehr als 50 Jahren! – immer noch jede Straße, jedes Haus und die Geschichte seiner Bewohner kennt. Der legendäre Reinhardswald im Norden Kassels ist seit jenen Tagen die Folie der vielen magischen Momente, die Morells zeichnerische (und dichterische) Welt umschreibt. Und die Fachwerkhöfe und -kirchen seiner Kindheit haben ihn bis heute nicht losgelassen.

In diese Dörfer, allen voran Hümme, das Humi seinen Namen gab, kehrte er nun zurück, nicht als verlorener Sohn, sondern als einer, der auszog, die große Kunst zu lernen.

Auf diese gemeinsame Unternehmung stützt sich die Monografie, die den Lebensweg eines Ausnahmekünstlers beschreibt, dessen Wahlheimat Worpswede Mitte der 1960er Jahre eher zufällig gefunden wurde, den es immer wieder zum Abwandern in andere Regionen und Länder lockte, der schließlich und trotz allem geblieben ist und bis heute unermüdlich und mit einer unglaublichen Energie an seinem „Book of Humi“ arbeitet. Es ist eine der komplexesten und langlebigsten künstlerischen Konzeptionen unserer Zeit, ein nicht enden wollender Erzählstrang, den es nun zu begreifen, zu enträtseln und zu würdigen gilt, als eines der großen zeichnerischen Epen, dessen sich Worpswede – einst und jetzt! – rühmen darf.

(Bernd Küster „The Book of Humi“, Donat-Verlag, Bremen, Euro 29,80)

Nachtrag: Was hätte man dafür geben mögen, wenn es in den Nachkriegsjahren jemandem eingefallen wäre, mit dem über 80jährigen Fritz Mackensen an die Orte seiner Kindheit im Weserbergland zurückzukehren, deren Spuren zu dokumentieren und sich dort von ihm seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen?