Ein bemoostes Haupt

Der eine oder andere Worpswede-Besucher wird sich vielleicht schon einmal die Frage gestellt haben, was es mit der Skulptur auf sich hat, die in der Nähe der Kirche unterhalb des Pfarrhauses am Hang zur Findorffstraße steht. Beim näheren Betrachten ist ein Ritter mit geknotetem Umhang und großem Schild erkennbar, an dem unaufhörlich der Zahn der Zeit nagt, Kopf und Schultern sind mit Moos bewachsen, Algen und Flechten überziehen Figur und Schrifttafel. Diese Skulptur steht nicht um ihrer selbst willen dort, sondern als Denkmal – als Kriegerehrenmal. Darauf verweist die inzwischen schwer lesbare Inschrift an ihrem Sockel. Alteingesessene Worpsweder nennen ihn liebevoll respektlos den „Heiligen Worps“, aber weniger ist bekannt, dass er der „St. Georg“ von dem berühmten Bildhauer Donatello ist. Als Kopie versteht sich. Aber wie kommt sie nach Worpswede, welchen kulturhistorischen Zusammenhang gibt es?

Wenn man der Spur Georgs folgen will, muss man zurück zu den Ursprüngen. Seine Gestalt ist legendenumwoben, historische Angaben zu seiner Person sind ungewiss. Wahrscheinlich im 3. Jahrhundert in Kappadokien (heute Türkei) geboren, starb er zu Zeiten der ersten Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian den Märtyrertod. Sein Protest gegen Verfolgung und Diskriminierung von Christen und sein Glaube, der ihn Folterqualen überstehen ließ, trugen zu dieser Legendenbildung bei. Und das schon bald nach seinem Tod. Eine zweite Darstellung kommt ca. 800 Jahre später auf, als Georg der Kampf mit dem Drachen zugeschrieben wird. In der röm.-kath. Kirche wurde er früh als Märtyrer für den Glauben verehrt und zum Symbol des siegreichen Kampfes über die Heiden. Durch die Kreuzzüge wandelte sich die Verehrung und aus St. Georg wurde der Ritter St. Georg, dem man als Kriegsmann huldigte. Er gilt als der populärste Heilige der Ostkirche und war der erste der 14 Nothelfer. So galt er als Schutzpatron der Krieger und Spitäler, der Schmiede, Bergleute und Bauern. Der Ritterorden bevorzugte ihn auch als Schutzpatron des Handels, den der Orden rege betrieb. Im 15. Jahrhundert nahm der Nothelferkult einen großen Aufschwung. Viele Kirchen erhielten in jener Zeit den Namen St. Georg.

In der Kunst war er immer ein beliebtes Motiv. Die vermutlich älteste Darstellung, ein Fresko aus dem 6. Jahrhundert, befindet sich in Ägypten. Seit dem Mittelalter wurde er gerne auch plastisch dargestellt, vornehmlich im Kampf mit dem Drachen. Diesbezüglich ist die große Holzplastik von Bernt Notke (1489) in der Nikolai-Kirche in Stockholm (eine Kopie davon existiert in der Katharinenkirche in Lübeck) bekannt. Und ebenso bekannt ist eine Darstellung als Ritter, die an der Außenfassade von Or San Michele in Florenz zu finden ist. Ihr Schöpfer: Donato di Nicolo di Betto Bardi, genannt Donatello. Dessen Geburtsstadt Florenz war Zentrum der Frührenaissance und brachte viele bedeutende Künstler hervor. Angeregt durch die antiken Skulpturen, die in dieser Zeit in Rom freigelegt wurden, begann Donatello einen neuen Weg in der Bildhauerei einzuschlagen, gleichsam die Statik der mittelalterlichen Gewandfigur zu überwinden. In seiner Heimatstadt schuf er Skulpturen für den Dom und eben jene, in Marmor ausgeführte St. Georg-Statue für die Zunft der Panzerschmiede, als deren Schutzpatron St. Georg galt. 1417 erhielt er dafür den Auftrag. Inbegriffen war auch die Gestaltung des Sockelreliefs, das den Kampf St. Georgs mit dem Drachen darstellt. Bereits 80 Jahre zuvor hatte man in Florenz den Beschluss gefasst, dass die großen Zünfte der Stadt jeweils an einem der Pfeiler von Or San Michele ihren Schutzpatron anbringen sollten. Mehrere Generationen von Künstlern waren daran beteiligt.

Insgesamt schmückten 14 Skulpturen die Kirchenfassade. Die marmorne St. Georg-Statue bekam an der Nordseite ihren Platz, wurde um 1700 aber an die Südseite verlegt und etwa 200 Jahre später dann endgültig durch eine Bronzekopie ersetzt. Seit dem Zeitpunkt wird das Original im Museo Nazionale del Bargello in Florenz aufbewahrt.

Die Skulptur gilt als eine der vollkommensten Schöpfungen der Frührenaissance. Neben Vasari war es Francesco Bocchi, der sie in seinem Traktat „Von der Vortrefflichkeit der Statue des Heiligen Georg“ (1571) würdigte. Beide Kunstkenner hoben ihre jugendliche Schönheit, ihre Lebendigkeit und ihren Ausdruck an Kraft, Würde, Erhabenheit und geistiger Größe hervor. Somit steht sie für das neue Menschenbild der Renaissance, eines Menschen, der begann, sich seiner selbst bewusst zu werden, sich als ein Individuum zu verstehen.

Und diese Skulptur – wenn auch als Kopie – steht nun seit 110 Jahren auf dem Weyerberg, denn sie wurde am 2. September 1906 als Ehrenmal für die im Krieg 1870/71 Gefallenen des Kirchspiels Worpswede eingeweiht. Ihr Platz in der Nähe des Pfarrhauses wurde vom „Verschönerungsverein“ „aus einem kahlen Sandterrain in grüne Rasen mit Gebüsch, von Klinkerstraßen durchzogen, welche mit Obst- und anderen Bäumen bepflanzt sind, umgewandelt.“ Die Idee, die Gefallenen aus dem 36 Jahre zurück liegenden Krieg mit dieser Skulptur zu ehren, geht vermutlich auf Fritz Mackensen, dem Mitbegründer der Künstlerkolonie, zurück. Man kann davon ausgehen, dass er die Arbeiten Donatellos kannte und schätzte. Insbesondere die St. Georg-Statue. Vorbildhaft in dieser Sache könnte der Marschendichter Hermann Allmers – nationalkonservativ gesinnt wie Mackensen – gewirkt haben, denn er stiftete in Rechtenfleth ein Ehrenmal aus selbigem Anlass. Beide waren in den 1890er Jahren befreundet. Inwieweit Mackensen dem Kriegerverein Worpswede, dessen Ehrenvorsitzender er war, diese Idee angetragen haben könnte, ist nicht nachweisbar, da keine Unterlagen dieses Vereins mehr im Dorfarchiv existieren. Aus diesem Grund ist auch die Finanzierung des Denkmals nicht rekonstruierbar. Aber es gibt Anhaltspunkte, die Mackensen als Ideengeber bestätigen. Denn bei den Nachforschungen ergab sich eine bemerkenswerte Überraschung: Der Worpsweder St. Georg hat ein Pendant im Wallhöfener Moor, in Vollersode. Auch dort wurde er als Denkmal für die im Krieg 1866 und 1870/71 Gefallenen des Ortes eingeweiht. Und das bereits am 27. Mai 1906. Das geschah, wie dann auch einige Monate später in Worpswede, mit einem großen Fest, inklusive einer Festpredigt und der Enthüllung des Denkmals durch den Landrat Dr. Becker aus Osterholz. In Vollersode wurde während des Festessens ausdrücklich ein Toast auf den „Kunst-Maler Mackensen-Worpswede“ ausgesprochen.

Die Frage stellt sich, woher die beiden Kopien aus Kunststein stammen. Um 1900 gab es in Berlin, München und Moskau Werkstätten, wo sie hätten hergestellt und von dort bezogen werden können. Andererseits gibt es einen Nachweis, dass um 1906 in Bremen in der Hemmstraße 20 eine Kunststein- und Terrazzo-Fabrik unter dem Namen Wilhelm Hurrelmeyer existierte. Dass die Kopien aus dieser Firma stammen, liegt nahe. Denn die Vegesacker Wochenschrift vom 15. 05. 1906 berichtete, dass die Vollersoder Figur von der Firma Hurrelmeyer-Bremen geliefert sei und am darauf folgenden Tag von ihr aufgestellt werde. Einige Tage später wurde dann ausdrücklich dem Kunstmaler Fritz Mackensen für „die Idee und die Anleitung zur kunstgerechten Ausführung“ gedankt. Man kann also davon ausgehen, dass sie in Bremen gefertigt wurde. Und eben in zweifacher Ausführung!

Die festliche Weihe von Kriegerdenkmälern war nach 1870/71 eine zeitgemäße Erscheinung. Sie wurden im lokalen Bereich durch die Kriegervereine, die in dieser Zeit einen Aufschwung nahmen, initiiert. Ihre Mitglieder rekrutierten sich aus ehemaligen Soldaten. Durch staatliche Kontrolle und Förderung wurden sie letztlich als „Bollwerk gegen die Sozialdemokratie“ instrumentalisiert. Darüber hin­aus steht die Tatsache der „Denkmalwut“ des 19. Jahrhunderts, denn Denkmäler waren charakteristisch für dieses Säkulum. Zum einen drückte sich in ihnen bürgerliches Selbstverständnis aus, zum anderen dienten sie der Identitätsstiftung des Nationalbewusstseins, das seit den Freiheitskriegen neu entstanden war. Im Zuge der Reichsgründung und der triumphal gefeierten Rückkehr der deutschen Truppen aus Frankreich entfaltete sich dann eine vielfältige Staatssymbolik. Die Siegesallee in Berlin oder das Kyffhäuser-Denkmal zeugen davon. Auch das politische Fest gehört in diesen Zusammenhang. Nach 1870 nahm es einen massenhaften Charakter an. Einen besonderen Stellenwert bekam das Sedanfest, dessen politischer Hintergrund die Kapitulation Frankreichs am 1. September 1870 war. Nach Friedrich von Bodelschwingh, seinem Mitbegründer, sollte es ein Friedensfest, „ein dauernd wiederkehrendes, vom Dank gegen Gott geheiligtes Volksfest“ sein. Die Kriegervereine, die bei allen Sedanfeiern den Ton angaben, pflegten mit diesem Fest die Erinnerung an 1870/71. Insofern bleibt die Frage: Wie gehen wir heute mit diesen Denkmälern um? Beispielhaft ist das Pendant in Vollersode, das nach wie vor in einem tadellosen Pflegezustand ist.

Auf jeden Fall sollte man „unserem Georg“ 110 Jahre nach seiner Aufstellung eine gründliche Reinigung zukommen lassen. Doch wer fühlt sich dafür heute zuständig? Den Kriegerverein gibt es nicht mehr. Also – die Gemeinde Worpswede, auf deren Grundstück das Denkmal steht? Die Kirchengemeinde, Die Stiftung Worpswede, die sich bereits um den Niedersachsenstein kümmert? Die Freunde Worpswedes, die – damals noch als „Verschönerungsverein“ bei der Aufstellung das Gelände herrichteten? Oder die Denkmalpflege des Landkreises? Oder vielleicht alle gemeinsam?