Die Paula Modersohn-Becker Stiftung müht sich seit einigen Jahren, das Werk ihrer Namensgeberin auch einem internationalen Publikum näher zu bringen. In den vergangenen 20 Jahren ist das Werk der Malerin deshalb nicht nur in renommierten deutschen Museen gezeigt worden, sondern auch in Tokio, Rotterdam, Krems (Österreich), Kopenhagen und Paris in großen Einzelausstellungen präsent gewesen. Im Jahr 2024 ging nun auch endlich ein lang gehegter Wunsch der Stiftung, die Arbeiten Paula Modersohn-Beckers in den Vereinigten Staaten von Amerika auszustellen, in Erfüllung.
Die Worpsweder Internetzeitung dankt Richard Pettit herzlich für die hier wiedergegebene Besprechung der am 6. Juni 2024 in der New Yorker “Neuen Galerie” eröffneten großen Paula Modersohn-Becker Ausstellung. Die Ausstellung wird vom “Art Institute of Chicago” übernommen und dort vom 11. Oktober 2024 bis zum 11. Januar 2025 zu sehen sein.
Verglichen mit anderen bedeutenden modernen Künstlerinnen wie Frieda Kahlo, Georgia O’Keeffe, Louise Bourgeois und Eva Hesse ist Paula Modersohn-Becker in den USA relativ unbekannt, und ihre Werke sind in amerikanischen Sammlungen kaum vertreten. Mit der Eröffnung der Ausstellung Paula Modersohn-Becker. Ich Bin Ich / I Am Me Anfang Juni in der Neuen Galerie New York und der nächsten Station der Ausstellung in Chicago wird sich dieser Zustand ändern und der Ruf der Künstlerin die ihr gebührende kunstgeschichtliche Bedeutung auch hier in den USA gewinnen. Sie ist die erste große retrospektive US-Ausstellung von Bildern und Zeichnungen Modersohn-Beckers und wird nicht nur in der Neuen Galerie gezeigt, einem 2001 gegründeten, auf moderne österreichische und deutsche Kunst spezialisierten Museum, sondern auch ab Oktober im Art Institute of Chicago, einem der größten, renomiertesten Kunstmuseen in den USA.
Die Neue Galerie befindet sich in der “Museum Mile” der Fifth Avenue gegenüber vom berühmten New Yorker Metropolitan Museum of Art in einem recht stattlichen Gebäude, das 1914 von Carrère & Hastings gebaut wurde, die gleichen Architekten welche die New York Public Library entworfen haben. Es gilt heute noch als eines der distinguiertesten Gebäude der Fifth Avenue.
Die lange geplante Ausstellung Modersohn-Beckers ist gut geeignet, das Werk und die bewegende Lebensgeschichte dieser bemerkenswerter Künstlerin einem amerikanischen Publikum vorzustellen. Sie umfaßt mehr als 70 Objekte, darunter einige der bekanntesten Portraits, Selbstbildnisse, Landschaften und Stillleben der Malerin und schließt auch die 1899/1908 geschaffene Bronzeportraitbüste Modersohn-Beckers von Clara Rilke-Westhoff ein. Die Werke sind über vier Ausstellungssäle mehr oder weniger chronologisch verteilt und durch einen schmalen Gang verbunden, an dessen Wand sich ein bebilderter Lebenslauf der Künstlerin erstreckt. Die Mehrzahl der geliehenen Werke stammt aus der Paula Modersohn-Becker Stiftung in Bremen sowie aus der Bremer Kunsthalle und dem Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen. Aber auch andere deutsche Museen und Privatsammlungen und die wenigen US-Besitzer von Modersohn-Becker Werken haben wichtige Leihgaben gemacht.
Zusammengestellt wurde die Ausstellung von zwei erfahrenen Kuratorinnen, beide mit besonderer Expertise im deutschen Expressionismus: Jill Lloyd für die Neue Galerie und Jay A. Clarke für das Art Institute of Chicago. Beide hatten gerade zuvor für eine große Edvard Munch Ausstellung zusammmengearbeitet, die vor einem Jahr am Clark Art Institute in Williamstown, Massachusetts, eröffnet wurde und jetzt im Osloer Munch Museum zu sehen ist. Für die Modersohn-Becker Ausstellung arbeiteten sie eng mit drei Bremer Kunstexperten zusammen: Wolfgang Werner von der Paula Modersohn-Becker Stiftung, Dr. Frank Schmidt im Paula Modersohn-Becker Museum und Dr. Christoph Grunenberg in der Bremer Kunsthalle.
Schon bei der Konzeption und ersten Planungsphase, die bereits 2019 begann, lag ein wichtiger Schwerpunkt der Ausstellung bei den Selbstbildnissen und beim fazinierenden Werdegang und der bohrenden Identitätssuche der Malerin, die sich gleich im Titel der Ausstellung ausdrückt: “Ich bin Ich / I am me” – übrigens ein Fazit aus einem Brief Paulas, den sie 1906 aus Worpswede an ihren Freund, den Dichter Rainer Maria Rilke in Paris schreibt, als sie sich vorbereitet, sich von ihrem Ehemann Otto Modersohn zu trennen und selbst nach Paris zu reisen. Der folgende Aufenhalt in Paris wird eine der produktivsten, künstlerisch ergiebigsten Schaffenszeiten ihres kurzen Lebens, und die schon vor Jahren begonnene Reihe von Selbstbildnissen setzt sich in Paris mit herausragenden Ergebnissen fort, darunter das bekannte rätselhafte Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag, das die Malerin halbnackt mit Bernsteinkette und einer “Scheinschwangerschaft” darstellt und eine Schlüsselstelle in der New Yorker Ausstellung einnimmt.
Es ist aber ein anderes, späteres Selbstbildnis, vielleicht die letzte Selbstdarstellung der Künstlerin, das zum Anlass und dann auch zum Titelbild der Ausstellung geworden ist: Selbstbildnis mit zwei Blumen in der erhobenen linken Hand. Das Bild entstand 1907 in Worpswede, nachdem Paula aus Paris zurückgekehrt und schon schwanger mit der Tochter Mathilde war, deren Geburt im Herbst1907 zum tragischen Tod der Mutter durch postpartale Embolie führte. Zwei New Yorker Institutionen, das Museum of Modern Art und die Neue Galerie, haben das Bild 2017 gemeinsam von Erben der deutschen Sammler Paul und Else Speck erworben und es damit zum ersten und einzigen Paula Modersohn-Becker Selbstbildnis in amerikanischen Sammlungen gemacht. Die Ausstellung in der Neuen Galerie feiert, unter anderem, diese Tatsache.
Ein Glanzpunkt der Ausstellung ist die Hervorhebung der frühen großformatigen Kohlezeichnungen, die sich auf figürliche Darstellungen der armen bäuerlichen Bevölkerung um Worpswede herum konzentrieren und Modersohn-Beckers scharfes Auge und ungeschminkten Realismus klar zur Schau bringen. Ein ganzer Ausstellungssaal wird mit 16 dieser Zeichnungen gefüllt—alle in den Jahren 1898-99 entstanden—und läßt keinen Zweifel, was die zeichnerische Meisterschaft der Malerin betrifft. Zwei davon, Alte Bäuerin und Alter Bauer, aus der Kieler Kunsthalle, stellten für die Kuratorinnen eine besondere Herausforderung dar, da ihr fagiler Zustand die Leihgabe erschwerte. Überhaupt, und aus anderen Gründen, war die Leihgabe von manchen Gemälden problematisch, da zum Beispiel einige Sammlungen wie das Paula Modersohn-Becker Museum nur eine begrenzte Anzahl ihrer Meisterstücke zur gleichen Zeit ausleihen durften.
Diese retrospektive Präsentation der Werke ist auch reichlich mit den vielleicht eigentümlichsten Bildern der Malerin bestückt, nämlich den in den letzten Jahren entstandenen Portraits und figürlichen Darstellungen von armen bäuerlichen Einwohnern Worpswedes, wobei sie kleine Mädchen, Frauen und stillende Mütter als Modelle bevorzugte. Paula pendelt wiederholt zwischen Worpswede und Paris, nimmt allerlei schöpferische Impulse von der französischen Hauptstadt in sich auf und vertieft sich dann in die eigenartigste und innigste Wiedergabe der ländlichen Bevölkerung Worpswedes. Die sorgfältig getroffene Auswahl von Bildern in New York schließt die folgenden bekannten Beispiele ein: Flöte blasendes Mädchen im Birkenwald, 1905; Alte Armenhäuslerin, im Garten sitzend, 1905; Zwei Mädchen in Weißem und Blauem Kleid, sich an der Schulter umfassend, 1906; Stillende Mutter vor einem Birkenwald, 1905; Kniende Mutter mit Kind an der Brust, 1906.
Außer den vielen Selbstbildnissen befinden sich im größten Saal der Ausstellung an einer Wand nebeneinander drei entscheidende Portraits, die eine Art ungewöhnliches Triptychon bilden: Rainer Maria Rilke, 1906; Clara Rilke-Westhoff, 1905; und Otto Modersohn, schlafend, 1906-07. Alle drei Personen begegnen der Malerin relativ früh in ihrem kurzen Leben und werden zu Schlüsselfiguren in ihrer Weiterentwicklung. Mit der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff verbindet sie eine enge, dauerhafte Freundschaft, wahrscheinlich die bedeutendste Verbindung mit einer zeitgenössischen Künstlerin, die Paula jemals erlebt. Ihr Bildnis von Clara gilt als eines ihrer gelungensten Frauenportraits.
Otto Modersohn, erfolgreicher Landschaftsmaler und einer der fünf Gründer der Worpsweder Künstlerkolonie, ist Paulas stärkste Bindung an Worpswede, und trotz ernsthafter Spannungen und einer schmerzhaften zeitweiligen Trennung in der Ehe bleibt er ihr treu verbunden, glaubt an ihre außergewöhnliche künstlerische Begabung und unterstützt sie unablässig finanziell, auch während der Trennung. Sie zeichnet ihn mehrmals, aber dieses Portrait im Schlaf ist eins von nur zwei bekannten Gemälden.
Der Dichter Rainer Maria Rilke, der heute als einer der größten, wenn nicht der größte deutschsprachige Dichter des 20. Jahrhunderts gilt, kommt 1900 als Gast Heinrich Vogelers nach Worpswede und wird sofort von den beiden “Mädchen in Weiß,” Paula Becker und Clara Westhoff, bezaubert. Seine 1903 veröffentlichte Monographie Worpswede erwähnt Paula nicht, denn die Buchreihe “Künstler-Monographien” war den “wirklich großen Meistern” vorbehalten. Paula Modersohn-Becker, heute eine anerkannt wirklich große Künstlerin, hat lange den Weg in die Öffentlichkeit nicht gesucht und war 1903 der Kunstkritik und dem Publikum noch unbekannt. Ende des Jahres 1905 aber ist Rilke – nach Modersohn – einer der ersten Entdecker der Kunst Paulas. Er und Clara sind auch unter den allerersten Sammlern ihrer Kunst und erwerben zu Weihnachten 1905 das kleine Bild Säugling mit Hand der Mutter, 1903, das auch in dieser Ausstellung zu sehen ist.
Während ihres letzten Pariser Aufenhalts malt Paula Rilkes Portrait. Rilke äußert sich nicht zum Bild, das ihn mit geöffnetem Mund darstellt, und es scheint ihm nicht ganz gefallen zu haben. Wie tief und umfassend ihr früher, unerwarteter Tod jedoch auf ihn eingewirkt hat, zeigt das 1909 veröffentliche Gedicht Requiem für eine Freundin, eins seiner meistgelesenen Werke. Paulas Rilke-Portrait ist zu einem der bekanntesten Gemälde des Dichters geworden und bereichert diese Retrospektive Modersohn-Beckers beträchtlich.
Die Paula Modersohn-Becker Ausstellung in der Neuen Galerie wird von einem beeindruckenden 209-seitigen Katalog begleitet, zusammengestellt und herausgegeben mit viel Sorgfalt und Wissen durch die beiden Kuratorinnen Jay A. Clarke und Jill Lloyd. Weiterhin wird die Ausstellung von einer Serie von fünf Vorträgen begleitet, die verschiedenen Aspekten der Kunst und des Lebens der Malerin gewidmet sind, sowie von einer dramatischen Lesung des von Kenneth Prestininzi geschaffenen Stückes Beholder, das von Paulas Tagebüchern und Briefen sowie von Rilkes Gedicht Requiem für eine Freundin inspiriert worden ist.
Die Ausstellung in der Neuen Galerie schließt Mitte September 2024 und wird dann im Art Institute of Chicago vom 11. Oktober bis zum 11. Januar 2025 zu sehen sein.
Website der Ausstellung in der Neue Galerie, wo auch eine Videotour durch die Ausstellung zu finden ist:
https://www.neuegalerie.org/modersohnbecker2024
Richard Pettit, geboren in New York und jetzt wohnhaft in Silver Spring (Maryland, USA), hat von 1978 bis 1986 als Doktorand der University of Massachussetts in Deutschland gelebt und hier seine Dissertation über die kunstkritischen Schriften von Rainer Maria Rilke fertiggestellt. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit hat er immer wieder Wopswede besucht und sein profundes, weit verbreitetes Buch “Rainer Maria Rilke und seine Künstlerfreunde in Worpswede” verfasst (3. Auflage 2001). Richard Pettit ist heute als freiberuflicher Publizist und Übersetzer (auf dem Gebiet Unternehmensgeschichte) tätig. Gelegentlich hat er auch das Thema Worpswede wieder aufgegriffen und Essays veröffentlicht, die europäische und us-amerikanische Künstlerkolonien und speziell Worpswede und Provincetown (Massachussets) miteinander vergleichen (in der Kunstzeitschrift “Provincetown Arts”).