Gisela Harwart muss eine sehr geschickte und gelehrige Auszubildende gewesen sein. Drei Jahre, von 1946 bis 1949, hat sie im Haus im Schluh bei Martha Vogeler und ihrer Tochter Bettina den Beruf der Handweberin erlernt und die Lehre mit einer Gesellenprüfung abgeschlossen. Ihr Gesellenstück, ein am Hochwebstuhl entstandener Gobelin, ist seit 2024 nach einem langen Weg durch die Republik wieder in Worpswede zu sehen. Er hängt jetzt 75 Jahre nach seiner Entstehung im Wohnzimmer der Käseglocke, des Museums für Worpsweder Kunsthandwerk, und ist eine Dauerleihgabe der in Hannover lebenden Besitzerin Andrea Lucker.
Die 1929 in Bremen geborene Gisela Harwart, die nur ein Jahr nach Abschluss ihrer Ausbildung den Töpfer Otto Meier heiratete, hat in der Schluh-Weberei einen bleibenden Eindruck hinterlassen, wenn man ihr von Martha Vogeler geschriebenes Zeugnis liest: „Sie ist für diese schwere Arbeit besonders geeignet, da sie ein gutes künstlerisches Einfühlungsvermögen besitzt und zeichnerisch begabt ist.“ Kein Wunder also, dass Gisela Meier in ihrer am 31. März 1949 noch unter dem Mädchennamen „Harwart“ abgelegten Prüfung in der „praktischen Leistung“ mit einem „sehr gut“ und in der „theoretischen Leistung“ mit der Note „gut“ bewertet wurde. Die so hochgelobte Prüfungsarbeit hängt nun in der Käseglocke neben einem weiteren Gobelin von ihr, den Walter Niemann entworfen hat, und wird von Vasen und anderen getöpferten Arbeiten ihres Mannes Otto Meier (1903 -1996) flankiert.
„Ein Gesellenstück auf Reisen“ hat Andrea Lucker ihren Bericht genannt, den sie anlässlich der Übergabe an die „Freunde Worpswedes“ verfasst hat. Daraus wird klar, wie Gisela Meier zu der Lehre im Schluh kam, in dem sie schon seit ihrem 4. Lebensjahr lebte, und welchen Weg der nun ausgestellte Gobelin nahm. Giselas Mutter „Tante Lola“, so schreibt Andrea Lucker, war eine Schwester ihrer Großmutter. Und diese Tante lud ihre in Hannover lebende Schwester immer dann mit ihren drei Kindern nach Worpswede in den Schluh ein, wenn Hannover in den Kriegsjahren 1942 bis 1945 von Bombardierungen bedroht war. Gisela, ihre Cousinen und ihr Cousin lernten sich im Schluh kennen, und als der Krieg zu Ende war, blieb sie für die Ausbildung an dem ihr so vertrauten Ort.
Ihr Gesellenstück schenkte sie noch in den 1950-ger Jahren an die sehr gut befreundete hannoversche Familie Pfeffermann. Andrea Lucker erinnert sich, dass das ungewöhnliche Stück im Wohnzimmer ihrer Großeltern an der Wand hing – häufig im Zigarrenqualm der Familienfeiern. Nach dem Tod der Großeltern wurde der Gobelin Anfang der 1980-ger Jahre an Giselas Cousine Christa weitergereicht und zog mit ihr nach Saarbrücken. Andrea Lucker: „Bis zu ihrem Lebensende hing er bei ihr und erinnerte sie an die schönen Kindheitsjahre in Worpswede, über die sie immer und immer wieder sprach. Nach Christas Ableben versprach ihre Tochter Steffi mir den Gobelin als Andenken an meine Lieblingstante. (…) Jahrelang lag der Gobelin dann noch in Steffis Keller, bis sie ihn im Mai 2024 zu mir nach Hannover schickte.“ Die heutige Besitzerin schreibt dann weiter: „Ich holte mir erst einmal die Beratung einer hannoverschen Webermeisterin ein, wie man den Gobelin jetzt pflegen könnte, damit seine Farben wieder zum Leuchten gebracht werden könnten. Die Beratung war erfolgreich“ Und so erhielt der Gobelin mit Hilfe eines pflanzenbasierten Waschmittels wieder seine schöne Anmutung.
Die Farben haben in 75 Jahren durch den Lichteinfall und die Pfeffermannsche Beräucherung ein wenig gelitten, leuchten aber immer noch. Die im Haus im Schluh entstandenen Webstücke wurden ausschließlich mit natürlichen, dortselbst hergestellten Pflanzenfarben gefärbt und beeindrucken noch heute durch ihre milde, warme Farbigkeit.
Gisela Meier hat den Schluh nach ihrer Ausbildung verlassen und sich selbstständig gemacht. In den Wohnhäusern am Schmidtberg, in den früheren Werkstätten der Worpsweder Kunsthütten und später in ihrem Haus Hinterm Berg, in dem ihr Mann seine Töpferwerkstatt eingerichtet hatte, stellte sie einen Hochwebstuhl auf und fertigte dort Wandteppiche in Gobelin- und Smyrnatechnik. Sie erhielt mehrere öffentliche Aufträge, so unter anderem 1959 für einen Gobelin, den die Niedersächsische Landesregierung als Geschenk zum 80. Geburtstag des bedeutenden Chemikers Otto Hahn bestellt hatte. Mit den Jahren veränderte sie die Motive, wechselte von figürlichen Darstellungen zu einer abstrakten Formensprache in geschlossenen Bildkompositionen. Im harmonisch-gefühlvollen Zusammenspiel von Farbflächen kombinierte sie dabei häufig nach Entwürfen des Malers und Grafikers Walter Niemann Gobelin- und Smyrnatechnik, so dass ein eigenwilliger, haptisch anmutender Reliefcharakter entstand. Gisela Meiers Tochter Susanne erinnert sich allerdings auch, dass ihre Mutter den Vater neben ihrer eigenen Arbeit sehr bei der Organisation von Ausstellungen und Verkaufsmöglichkeiten unterstützte, alle fertigen Arbeiten fotografierte und so zu einer großen Stütze ihres Mannes wurde.
Parallel zur Weberei entdeckte Gisela Meier eine andere Fertigkeit an sich: die filigrane Arbeit mit dem Schnitzmesser. Angeregt wiederum durch Walter Niemann fertigte sie Miniaturstühle. Niemann hatte ihr so einen kleinen Stuhl geschenkt, und sie fing Feuer, produzierte nun alle möglichen Stuhlformen, besprach sich mit dem Worpsweder Binsenflechter Cordes und bespannte die Bauernstühle mit winzigen Binsengeflechten. Ein Ergebnis ist die außergewöhnliche, gemeinsam mit Walter Niemann erstellte „Stuhlauktion“, die ihren Platz im Treppenaufgang der Käseglocke gefunden hat. Wie auf einer kleinen Guckkastenbühne sind hier die klassischen Designerstühle, darunter schwer herstellbare Bugholzstühle, hinter einem Auktionator platziert – eine wunderbare Arbeit.
Gisela Meiers kleine Kunstwerke haben genauso wie ihre Gobelins viel Anerkennung erfahren – allein das Bremer Focke Museum, das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, erwarb von ihr zwölf Worpsweder Miniaturstühle für ein Bauernhaus-Modell.
Ihre Arbeiten und die ihres Mannes sind für das Worpsweder Kunsthandwerk stilprägend geworden und haben in der Käseglocke einen wunderbaren Platz gefunden. Diese Würdigung haben beide leider nicht mehr erleben können – Gisela Meier starb 1995 und Otto Meier ein Jahr später.